Alltagsterror

Die Vertreibung des Philosophen aus dem Paradies: ein Entmietungsdrama? Teil 1

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Dienstag, 4.11.2014, Eifel. Wir haben in den letzten viereinhalb Jahren immer wieder Einzelfälle geschildert – Menschenschicksale der Moderne, die es in einem der reichsten und erfolgreichsten Länder der Welt eigentlich gar nicht mehr geben dürfte. Mehr und mehr merken wir aber: der Erfolg der Nation ist nicht mehr für uns Menschen gemacht. Wir werden mehr und mehr überflüssig. Roboter ersetzen uns an allen Ecken und Enden, die nächste Welle der Massenentlassungen wird schon vorbereitet: die Vollautomatisierung der Kassen wird zig-tausende von Verkäuferinnen in die Arbeitslosigkeit treiben.

Ich dokumentiere gerne diese Einzelschicksale. Es ist schade, das mir schlicht die Ressourcen dazu fehlen, sie im Einzelnen nachzuverfolgen – aber ich kann nicht auf allen Hochzeiten tanzen. Zu dem ersten – wir nannten ihn damals „Che Arguevarra“, weil er mutig und allein gegen ein Jobcenter anging, das seinen Auftrag noch nicht ganz verstanden hatte – habe ich heute noch regelmäßig Kontakt, er ist ein lieber Freund geworden. Und ja: es geht ihm gut, den Umständen entsprechend.

Nun – wer rechnet aber schon wirklich damit, mal selbst zur Nachricht zu werden – oder auch nur, selbst zu den Chancenlosen dieser Gesellschaft gezählt zu werden?

Das kann – unter Umständen – schnell gehen. Bei mir hat es sechs Monate gedauert. Ich will  ja jetzt niemandem groß mit meiner Lebensgeschichte die Ohren volljammern (habe das nebenbei schon oft genug getan, um völlig klar zu stellen, warum ich wirklich all´ die vielen netten Einladungen in der Vergangenheit nicht annehmen konnte und niemals werden annehmen können), aber sie gehört nun mal zum Teil zu der jetzigen Geschichte dazu.

Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der zu früh eingeschult wurde, was dazu führte, dass er mit Abstand der Kleinste in der Klasse war – zudem jemand, der von seinem Vater zur absoluten Gewaltlosigkeit verpflichtet wurde: der Krieg stand jener Generation noch deutlich in Erinnerung. Wie sich jeder unschwer vorstellen kann, führte das zu gewissen Problemen im sozialen Experimentierfeld Schule, die mich frühzeitig zu der Erfahrung führten, dass mit dieser Welt etwas nicht in Ordnung ist. Gut – ich wuchs weiter, wurde kräftiger – und vertrieb im Laufe der Jahre meine Peiniger durch den Einsatz von körperlicher Gewalt. Ich war nicht mehr „gut“ – aber fortan unversehrt.

Als Arbeiterkind habe ich mehrfach meinen ganzen Freundeskreis verloren – damals, in den sechziger. Ich wollte hartnäckig weiter zur Schule. obwohl mein Vater es gern gesehen hätte, dass ich eine Schreinerlehre mache, um mit ihm zusammen – unter seinem Kommando – eine Werkstatt zu eröffnen. Aber – „Abitur“ machen zu wollen, war verpönt in jenen Kreisen der kleinen Bergarbeiterstadt in nordöstlichen Ruhrgebiet. Als ich dann noch studieren ging, war alles vorbei: ich war der Ausgestossene. Da ich mit 18 Jahren zu meiner Freundin nach Recklinghausen zog, war das zu ertragen.

Am Ende des Studiums merkte ich, das mir die Beschäftigungen, die mir offen standen, nicht gefielen. Ich hatte mein Examen mit „sehr gut“ bestanden und eine Einladung zur Doktorarbeit vorliegen – doch ich empfand den akademischen Bereich als Verrat an der Philosophie; noch schlimmer erlebte ich das Schulwesen – ich bekam … wie auch beim Wehrdienst … enorme Probleme mit meinem frisch entdeckten Gewissen: „Schuldienst“ schien mir schlichtweg mit dem philosophischen Geist nicht vereinbar (ja – ich war hier aber auch schon während der eigenen Schulzeit vorgewarnt worden: nun konnte ich es bestätigen), erst recht aber mit allen pädagogischen Prinzipien, die ich mir angeeignet hatte (ich begleitete seit dem ich 15/16  war Jugendfreizeiten in den Ferien – soziale Randgruppen nannte man das damals. Wirklich: seelisch gesehen ganz feine, wenn auch verletzte Menschen).

Zufällig begegnete ich einem Philosophen, der in der Pharmaindustrie arbeitete – und ich war überrascht über seine Erzählungen. Es gab viel zu lernen, wunderbare Begegnungen mit Menschen – ich wollte dem Job eine Chance geben: eine einzige Bewerbung, und ich wurde während des Vorstellungsgespräches eingestellt. Soll ungewöhnlich sein.

Wieder verlor ich all meine Freunde. Geisteswissenschaftler und Wirtschaft passen nur selten zusammen, meine lieben Kollegen hatten dank „Hauptberuf Sohn“ ganz andere Möglichkeiten als ich, mein Bafögsatz reichte nicht dazu, um mit dem Professor in die Toskana zu fahren, mein Urlaub musste im botanischen Garten der Uni stattfinden. Die Unifreunde waren also fort – was ich wieder kaum merkte, denn wir zogen in die Eifel. Die Firma hatte dort ein Problemgebiet, an dem sie seit dreissig Jahren scheiterte. Man hielt mich für ideal, dort arbeiten zu gehen.

Es dauerte einige Zeit, bis ich merkte, dass der Job in der Industrie nicht der des edlen Wissensvermittlers war, sondern eher dem einer Drückerkollonne ähnelte. Andere Erfahrungen brachten mich zu meiner Einstellungen, keine Tabletten zu nehmen. Unser zweites Kind war 1990 geboren worden (beides Wunschkinder, das erste 1987 wir wollten nicht zu alte Eltern werden) – und wir machten die hässliche Erfahrung, dass man lieber an Menschen mit Hunden denn an Menschen mit Kindern vermietete.

Nun ja – Geld floss reichlich, der Job war übel, aber gut bezahlt: ich war inzwischen der erfolgreichste Mitarbeiter in Deutschland, wohnte in einem schimmeligen Ferienhaus (was anderes war nicht zu bekommen gewesen) und bekam keine andere Mietwohnung. Also: wieder umziehen – mangels Alternative wurden zwei alte Eigentumswohnungen gekauft – mit Nachbarn, die gleich am ersten Tag darauf bestanden, dass wir wieder ausziehen sollten: für Kinder war in diesem Haus kein Platz. Es wurde sogar damit gedroht, dass Haus in Brand zu setzen, wenn wir nicht ausziehen würden.

Nun – wie man lesen konnte, war ich Auseinandersetzungen gewohnt – aber ich war auch immer häufiger unterwegs. Die Arbeitswoche dehnte sich dank Beförderung auf 80 bis 120 Stunden aus (inklusive Wochenendarbeit), Schlaf war ein ganz seltener Begleiter, ausreichen Schutz für meine Familie zu geben, immer schwerer.

Damals konnte man allerdings für viel Arbeit noch viel Geld bekommen – als kauften wir ein altes Bauernhaus, renovierten es selbst (das war mein Urlaub) … und freuten uns über einen Riesengarten. Die Kinder (es wurden sechs im Laufe der Jahre) erlebten sehr glückliche Zeiten, weil das Haus mit seinen Ställen, Brunnen, Kämmerchen und versteckten Winkeln ein einziger Abenteuerspielplatz war. Es war auch ein gutes Gefühl, endlich ein Zuhause zu haben – genau genommen wollte ich nie mehr vom Leben: eine Familie und ein Zuhause. Die ganzen Luxusreisen der Industrie, ihre Luxuspräsente und Sonderprämien waren mir im günstigsten Falle lästig.

Endlich – so sah es aus – bräuchte ich nie wieder umziehen, konnte mich endlich darauf konzentrieren, der Pharmaindustrie zu entkommen – was nicht so einfach war: wer braucht schon einen Philosophen? Es dauerte eine Weile, bis ich das Haus so weit hatte, dass es die notwendige Geborgenheit ausstrahlte – und dann schrieb ich erstmal drei Bücher für meine Kinder, Vorlesebücher, in denen sie selbst Helden waren. Auch eine Idee, die aus der Not geboren wurde: wann immer möglich, las ich den Kindern abends was vor – und irgendwann gingen uns jene Bücher aus, die sie so sehr mochten. „Besser als Harry Potter, aber schlechter als der Herr der Ringe“ – so war ihr Urteil über meine ersten Machwerke.

Und dann … zerbrach meine Ehe. Überraschend, plötzlich und ziemlich brutal. Details – möchte ich an dieser Stelle nicht nennen, aber wir hatten letztlich nicht mehr viel Zeit, eine neue Bleibe zu finden. Es war eine Zeit, in der ich auch seelisch sehr angegriffen war, mich sofort in eine neue Beziehung stürzte (ja – später meine ein Psychologe zu mir, dass sei typisch für Männer … und für mich sehr heilsam gewesen) – das erste Mal seit meiner Kindheit standen mir wieder Tränen in den Augen.

So kam ich in mein Paradies  – einer alten, baufälligen Pension in einem kleinen, abgelegenen Eifeltal. Während des Umzuges gab mein Rücken nach, eine seit Jahren bestehende Schwäche (entstanden durch 1 000 000 Km Autobahn – 25 Erdumrundungen in 17 Jahren, der Großteil davon in den letzten Jahren) brach durch: an Arbeiten – das war bald klar – wäre nie wieder zu denken. Selbst einkaufen, Boden wischen und Gartenarbeit wäre für mich kaum zu stemmen gewesen, die ersten Monate lag ich fast vollkommen flach. Der Arbeitgeber rechnete flugs die Firma klein – und so war dann auch der Kündigungsschutz fort. Ich erfuhr aber von meinem Freund und Anwalt, dass Krankheit sowieso nicht vor Kündigung schützt.

So hatte ich innerhalb von sechs Monaten alles verloren, was ich mir aufgebaut hatte: zwei Wohnungen fürs Alter, vier Baugrundstücke für die Kinder, ein Haus mit Stall und anderen Anbauten, meine Familie, meine Kinder, meine Gesundheit, mein Lieblingsauto (Traumwagen seit Jahren), meinen Lieblingsjob (mit großem Nutzen für die Versicherten – war nur noch im Arzneimitteleinzelimport tätig … und dachte daran, später selbst ein Unternehmen in diesem Bereich aufzubauen). Meine geliebten Wanderungen durch die Natur konnte ich auf vergessen: „nie mehr ohne Begleitung oder ohne Handy durch die Wälder streifen“ – so lautete das Gebot der Ärzteschaft.

Natürlich verlor ich zum dritten Mal meinen gesamten Freundeskreis (na – nicht ganz alle, aber von dem Rest sind vier verstorben – in meinem Alter): man wird nicht krank im Management – dort arbeiten nur Supermänner, schon die Tatsache, dass ich Familie hatte (und dann auch noch viel davon) war ein Makel … den ich locker mit noch mehr Erfolgen ausgleichen konnte, sonst hätte man mich schon vorher entfernt.

In all diesen Katastrophen aber (von denen es noch einige mehr gab, wie man sich denken kann) stellte ich fest: ich hatte das ideale Heim gefunden. Einsam, ruhig, weitab vom Trubel der Welt in den Wäldern. Die Gartenarbeit war zwar der Horror – aber hier konnte ich alle meine Wunden auskurieren, meine Leben so strukturieren, dass trotz allem wieder etwas Lebensfreude aufkam: ich hatte wieder ein Zuhause gefunden – und vereinbart war, dass es ein sehr langes Mietverhältnis sein sollte.

Nach dem ich mich eingerichtet und einige Wölfe von der Tür verjagt hatte, begann ich wieder zu schreiben. Erst als „Philosoph“ bei der Piratenpartei, aber dann – auf Wunsch und leichtem drängeln von Lesern – als „Eifelphilosoph“ mit eigenem Blog. Der Rest … ist Geschichte. Trotz allem Leid und Ungemach (die neue Beziehung hielt trotz aller Leidenschaft auch nur ein paar Jahre – was angesichts der Umstände nicht verwundern sollte) war ich doch da gelandet, wo ich meine Fähigkeit sinnvoll zum Einsatz bringen konnte, genau das machen konnte, was mir immer vorschwebte: die Philosophie zu den Menschen zu bringen, die Kunst des Denkens – die so viel Lebensqualität selbst in übelsten Lebensituationen bringen konnte – wieder weiter zu verbreiten.

Leider kam mir die Welt da ein klein bischen in die Quere – sie neigte dazu, unterzugehen.

Doch hier – in meinem kleinen Paradies, umgeben von Bäumen, Tieren, Bächen, Hügeln, funkelnden Sternenhimmeln und rauschenden Winden – konnte ich auch diesen Prozess weiter begleiten, ohne in Apathie oder Wahnsinn zu verfallen. Trotz auch nicht geringer seelischer Wunden gelang es mir wieder, produktiv zu werden – anstatt dem Selbstmord oder der Trunkenheit zu verfallen (was für Männer in meiner Situation nicht ungewöhnlich ist) merkte ich, dass meine Worte anderen Menschen helfen konnten – mein Leben bekam einen neuen Sinn.

Nun ist das Paradies in Gefahr – man dachte es sich wahrscheinlich schon. Schon vor zwei Jahren trat die Erbengemeinschaft mit der Entscheidung an mich heran, dass man das Haus gerne würde verkaufen wollen … und jetzt war der Makler da. Sparkasse – da landen alle die unverkäuflichen Immobilien. Der Preis ist gering bemessen: 90 000 Euro (Grundstückspreis minus Abrisskosten). Einen Kauf habe ich erwogen … könnte wahrscheinlich viele Hürden nehmen – aber ich mag es nicht, Schulden zu haben. Ist mir ein Gräuel – auch wenn es Immobilienschulden sind.

Nach Gesprächen mit Handwerksmeistern habe ich aber auch den Verdacht, ich würde wegen Alter und Krankheit gar keinen Kredit mehr bekommen (trotz Rente auf Lebenszeit) – dabei wären die monatlichen Belastungen nur halb so hoch wie vorher.

Noch vor einem Jahr habe ich große Panik bekommen … mir wurde klar, dass mein „Marktwert“ als Mieter äußerst gering ist: mir droht Obdachlosigkeit. Neuen Wohnraum zu bekommen – bei den steigenden Preisen in der Umgebung – scheint schlichtweg unmöglich … Wohnraum, der mir ermöglicht, mein wieder stabilisiertes Leben fortzusetzen, ist erst recht kaum vorhanden.

Nun darf ich noch nicht mal klagen: anderen geht es schlechter. In Deutschland, in Afrika, in der ganzen Welt. Ein perfides System, dieses „anderen geht es schlechter“ … am Ende bleibt immer der Fingerzeig auf die angefressene Leiche im Graben: „Sei froh, dass Du noch nicht dort gelandet bist!“. Hier wird der Mord als Normzustand akzeptiert … und so weltweit alle Notverhältnisse stabilisiert, so dass weiter Not herrscht.

Nun – in gewisser Hinsicht ist das natürlich alles mein Problem: so sieht es die neudeutsche neoliberale Gesellschaft. Ist ja auch so: was sollen sich die Menschen schon für das persönliche Schickal jenes Menschen interessieren, der tagaus tagein ungefragt das Internet mit seinen Ansichten füllt.

Doch dann fiel mir ein, dass das, was hier geschieht, nur ein Teil dessen ist. was bundesweit zu beobachten ist: die Vernichtung preiswerten Wohnraums, die Verdrängung von Mietern, die Vertreibung von Menschen durch das Kapital. Vielleicht ist die Vertreibung für mich sogar noch unangenehmer – weil ich die letzten Jahre schon öfter vertrieben worden bin.

Schon war die Idee geboren: wenn ich schon um mein Zuhause kämpfen muss, dann mache ich daraus auch eine Geschichte.

Und kämpfen werde ich müssen … denn die ersten Drohungen liegen schon auf dem Tisch. „Da kommen Profis“, hieß es, „die haben in der Nachbarschaft schon ein Mehrfamilienhaus leer gekriegt“. Ich hatte erwähnt, dass ich über ein ärztliches Attest verfüge, dass ein Umzug meine Gesundheit gefährden würde  – doch das zählt in diesem Land nicht mehr.

Geld verjagt Mensch.

Ich denke – der Umzug wird auch das Ende des Eifelphilosophen sein: wir freien Denker funktionieren nur in gewissen Umgebungen, brauchen – wie auch der universitäre Philosoph – eine gewisse Geborgenheit im Umfeld, um den Geist von Alltagssorgen zu lösen und die Welt aus anderen Perspekiven betrachten zu können – und wenn andere das nicht brauchen: ich schon. Habe ich nicht den Ausgleich der intakten Natur um mich herum … werde ich wahrscheinlich auch deutlich weniger produktiv sein können, vielleicht sogar mit Flaschenbier vor dem Fernseher landen, wie so viele, für die ein anderes Schicksal denkbar gewesen wäre.

Nun denn, für den Anfang sind genug Worte gemacht. Beenden wir also den Teil 1 des möglichen Entmietungsdramas: Die Vertreibung des Philosophen … eines Dramas, das stellvertretend stehen soll für tausende von Menschen, die derzeit in Deutschland vertrieben werden, ohne dass groß ein Hahn danach kräht.

Letztlich erwischte es sogar einen hundertjährigen, der aus seinem Altenheim vertrieben wurde – sicher ist wirklich niemand mehr.

Warum ich eigentlich damit rechne, mit meinen Kindern vertrieben zu werden?

Weil reiche Holländer schon seit Jahren im Tal alles aufkaufen, was sie kriegen können – sogar das Bürgerhaus (das jetzt von ein paar engagierten Bürgern an anderer Stelle neu aufgebaut wird, damit die Kinder wieder Nikolaus feiern können….).

Ach ja, und ein PS noch: das zweite Buch ist auch draußen. Nein – damit verdient man nichts. Vielleicht in fünf Jahren mal. Erstmal … ist das nur Hobby. Kaufen kann man das bei Epubli, E-Book folgt.

Band 2 - Krieg und Frieden - Beobachtungen zu den Wirren der Gegenwart - Reiner Dammann

 

 

 

 

 

 

 



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