Mittwoch, 23.7.2013. Eifel. Letztens erreichte mich eine Kritik über unser Nachdenkmagazin. Sie stammt von einem Nicht-Leser, der keine Artikel gelesen hat, aber eine profunde Meinung äußert:
Auch der ‚Nachrichtenspiegel‘ ist so ein Medium, das gerne jede sich nur bietende Meldung dafür benutzt, eine leichte Verschwörungstheorie darauf zu bauen. Verschwörungstheorien bezwecken in aller Regel nur, das Unbegreifliche, auch aus fehlenden Informationen heraus Unbegreifliche, auf die Verständnisebene von Otto Normal herunterzuschrauben und dem Ganzen einen in dessen Universum verständlichen Sinn zu geben.
Ich will nicht darauf hinaus, dass wir es hier wohl mit einem der größeren Meister deutscher Denkfaulheit zu tun haben, einem Blockwart feinster Größe. Was ist eigentlich eine „leichte“ Verschwörungstheorie? Sind jetzt selbst leichteste Abweichungen von der Regierungmeinung und ihrer Vervielfältigung in „staatstragenden Medien“, die kleinste Andeutung, dass man solche Meinungen der Mächtigen nicht nur glauben sondern auch mal hinterfragen sollte, anrüchig? Gibt es überhaupt noch Menschen, die erahnen, was die Hatz auf „Verschwörungstheorie“ bewirkt? Ich kann es gerne mal aussprechen: die Einführung einer Einheitsmeinung, bestimmt von einem kleinen Kreis von Elitelumpen, die sich die Taschen mit Steuergeld füllen, wo immer es nur geht.
Während wir strengstens observiert werden, ob wir denn auch wirklich die „richtige“ Weltanschauung teilen, ist man gegenüber den Oberschichtsmedien weniger streng – selbst wenn hier bis an die Grenzen des Erlaubten zu Menschenjagd geblasen wird.
Ein Beispiel?
Gern.
Heute veröffentlicht ein „Jan Fleischhauer“ einen Kommentar zur aktuellen Krise in der Ukraine – wie immer im Spiegel:
Wer ist verantwortlich für den Abschuss von MH17? Russland ganz sicher nicht, sagt Wladimir Putin. Der Präsident leidet an wahnhaftem Wirklichkeitsverlust – und mit ihm das ganze Land. Dagegen helfen auch keine Sanktionen.
Nun – Herr Fleischhauer ist kein Psychiater. Das macht aber nichts: er diagnostiziert einfach mal so. Was mache ich, wenn ich einem Menschen „wahnhaften Wirklichkeitsverlust“ bescheinige? Nun – ich nehme ihm einen Teil seiner Menschlichkeit, stelle ich als krank dar, als nicht ganz in Ordnung – als jemanden, mit dem man gar nicht reden braucht: nützt sowieso nichts. Ist ja der Vernunft nicht zugänglich – weshalb auch die Sanktionen nichts bringen.
Doch Herr Fleischhauer geht noch weiter:
Man weiß aus der Psychopathologie, welche Folgen die Wirklichkeitsverzerrung für den Einzelnen hat. An die Stelle des herkömmlichen Erklärungssystems tritt ein alternatives Deutungsmodell, dessen innere Logik auch durch Gegenargumente nicht erschüttert werden kann. Was die anderen als Realität ausgeben, erscheint als ein raffiniertes Trugbild, das nur deshalb als wahr gilt, weil einflussreiche Mächte die Menschen daran hindern, die Wirklichkeit zu sehen. Jetzt müssen wir erkennen, dass Wahnsysteme nicht nur Personen, sondern ganze Gesellschaften erfassen können.
Der Russe – ein Volk von Wahnsinnigen. Fehlt nur noch der leise Hinweis darauf, dass die verschwundenen Leichen aus der abgeschossenen Maschine von den Separatisten aufgefressen wurden, dann hat man endlich den Feind, den man so sehnlich sucht.
Doch es geht noch weiter.
Der Westen müsse endlich Ernst machen, heißt es jetzt in den Kommentarspalten.
Ja – hier setzt sich ein Journalist an die Spitze der Kommentatoren, die erkannt haben, dass Sanktionen nichts bringen: der Feind ist geisteskrank, ein Ungeheuer, eine … Bestie. Man braucht es nicht auszusprechen, alle wissen, was folgen muss: Putin muss Saddam Hussein und Gaddafi folgen – sonst kommt alles noch viel schlimmer.
Matthias Nass beteiligt sich in der Zeit an der Konstruktion der Bestie:
Die Welt ist in den vergangenen Tagen Zeuge eines schändlichen Treibens geworden. Auf abstoßende Weise haben die prorussischen Separatisten das Absturzgebiet zunächst Plünderern überlassen. Um dann die Leichname einzusammeln und sie ohne jeden Respekt vor der Würde der Toten und dem Leid der Angehörigen in Kühlwaggons abzuladen.
Schändliche, respektlose, würdelose, abstoßende Separatisten. Pfui aber auch. Wir wissen, wonach das schreit, oder? Immerhin: wir sind DEUTSCHLAND, wir sind WELTMEISTER, uns kann keiner und Regierung samt Präsident reden uns ja schon lange ein, dass wir MILITÄRISCHE VERANTWORTUNG übernehmen sollen.
In der FAZ erfahren wir, worum es wirklich geht:
Der Abschuss der malaysischen Passagiermaschine über ostukrainischem Kriegsgebiet setzt eine Zäsur, die womöglich den Anfang vom Ende des Putin-Regimes einläutet.
Das „Putin-Regime“ – der Feind, das Böse, die Bestie. Jeder, der das nicht so sieht, macht sich mitschuldig am Tode unschuldiger Menschen: klassische Kriegspropaganda. Putin als der schwarze Herrscher Sauron, der schlimmstes tut:
Die Politik der Mobilisierung des gesellschaftlichen Bodensatzes, die Putin seit 2003 betreibt, sei, wie endlich offen zutage trete, auch die Grundlage seiner Außenpolitik, urteilt der Historiker Wladimir Pastuchow.
Putin … der Führer des gesellschaftlichen Bodensatzes: da muss jetzt wirklich mal ERNST GEMACHT werden.
Russland ist vor allem deswegen so gefährlich, weil es in der Ostukraine wilde Freischärler mit hochentwickelten Waffen unterstützt, ohne Kontrolle über sie zu haben. Diese Leute sind vor allem Straßenschläger, Kleinkriminelle, sonstige Aussteiger, die ihrer Heimat nur Probleme bereiten, sich aber jetzt in der Ukraine austoben und dabei noch einreden dürfen, sie kämpften gegen Faschisten im Dienst des großen Russland. Doch, erklärt Julia Latynina, dass es eine Welt außerhalb von Russland und der Ukraine gibt, übersteigt ihre Vorstellungen.
Wir im Westen kennen „diese Leute“ genau: es sind die Hartz-IV-Empfänger. Man sollte hier gleich Nägel mit Köpfen machen und diese Brut ebenfalls … ernsthaft angehen, auch bei denen scheinen Sanktionen nicht zu wirken.
Die FAZ klärt auch darüber auf, wie wir Putin zu sehen haben … WIR, der WESTEN:
Die Moskauer Publizistin Julia Latynina nennt den Abschuss ein „echt russisches Lockerbie“. Für die Welt stehe Russland mittlerweile auf einer Stufe mit Gaddafi.
Wir wissen, was WIR mit „Gaddafi“ gemacht haben. Frage mich gerade, wie Putin sich wohl gerade fühlt, wenn er das liest.
Die Zeit bereitet die Operation Putin schon mal gezielt vor …und erkärt Russland zum „globalen Außenseiter“.
Nachdem nun die Rebellen heute zwei weitere Kampfjets abgeschossen haben (spezielle Erdkampfflugzeuge vom Typ SU 25 – die kann man mir schultergestützten Raketen angreifen), meldet die Süddeutsche interessante Details:
Die US-Geheimdienste haben nach Medienberichten bislang keine Beweise für eine direkte Beteiligung Russlands an dem Abschuss eines Passagierflugzeuges in der Ostukraine. Dass die Rebellen die Malaysia-Airlines-Maschine mit der Flugnummer MH17 mit einer Boden-Luft-Rakete vom Typ SA-11 vom Himmel geholt hätten, gehe wahrscheinlich auf einen Fehler zurück, hieß es am Dienstag nach Angaben des TV-Senders NBC und anderer US-Medien aus Geheimdienstkreisen. Es lasse sich bislang nicht sagen, wer genau für den Tod der 298 Menschen an Bord verantwortlich sei.
Ein „Fehler“? Von betrunkenen – sogar rauchenden – Barbaren? Kürzlich hieß es doch noch, dass die Raketen vom Typ „BUK“ sehr kompliziert zu bedienen seien, weshalb unbedingt ein russisches Spezialkommando herbeifantasiert werden musste?
Scheinbar ist dem deutschen Journalismus – dem deutschen Oberschichtsjournalismus – entgangen, dass man erst Urteile fällt, nachdem BEWEISE vorliegen – Beweise, die scheinbar auch den geübten Bestienjägern der USA fehlen.
Nun – Jan Fleischhauer weist auch auf die Süddeutsche hin, die ebenfalls mehr „Druck“ fordert.
Moskau trägt durch die Unterstützung der Separatisten zumindest eine indirekte Mitschuld am Abschuss des Fluges MH17. Europäische Union und USA dürfen der Schein-Politik Putins nicht länger Beachtung schenken, sondern müssen endlich Druck ausüben – statt nur zu taktieren.
Ja – „Druck ausüben“. Aber … wenn die Sanktionen nichts bringen, außer „das Gewissen des Westens zu beruhigen“, wenn Gespräche und Diplomatie versagen … was schwebt dem deutschen Oberschichtsjounalisten denn dann vor? Oder – mal anders gefragt: was wollen sie mit diesen Worten beim Leser auslösen?
Reden – bringt nichts, Putin und Russland sind geisteskrank.
Sanktionen – bringen nichts. Sollen nur das Gewissen des Westens beruhigen.
Diplomatie – bringt nichts … ist eh´ nur hilfloses taktieren.
Was also soll dem Leser selbst als Lösung der Probleme einfallen?
Wie wäre es mit „Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“: „wann schießen wir endlich ein paar von diesen Barbaren tot?“.
Ich würde alle Beteiligten – und auch die deutschen Journalisten – mal bitten, sich Gedanken darüber zu machen, welche Wirkung ihre Worte auf Leser haben. Viele Leser haben nicht studiert, manche sogar noch nicht mal Abitur … fühlen sich aber gerade unbesiegbar, weil sie „Weltmeister“ geworden sind.
Ich hoffe, dass man wenigstens noch zum Nachdenken aufrufen darf … obwohl: streng genommen, kann jedes Nachdenken – gerade im Bereich der Politik – schnell zu Theorien führen, die der Regierungsmeinung nicht entsprechen.