Mittwoch, 9.7.2014. Eifel. Es ist mal wieder Zeit, über Armut zu reden. Es schwirren wieder Worte von „Klagen auf hohem Niveau“ durch den Raum. Offenbar habe ich noch nicht genug gegen die neoliberale Propaganda angeschrieben, die Worte zu schlecht formuliert … oder einfach viel zu wenig Leser. Na, egal – ist ja hier ein Nachdenkmagazin und nicht die Revolutionspostille.
Anlass meines Gespräches war eine Unterhaltung mit einer reichen Frau über Schuhe. Reich? Ja. 1800 Euro Einkommen bei 100 Euro Miete ist für mich reich, auch wenn noch ein Kind davon leben muss. Ich kenne Witwen, die mit 400 Euro im Monat auskommen müssen … und davon werden noch Miete, Heizung und Telefon abgezogen. Natürlich sind die „selbst schuld“, die könnten ja zum Amt gehen und „aufstocken“ – werden Sie jetzt sagen. Und wissen Sie, was wir da dann noch haben?
Eine weitere Form von Armut: arm an Mitgefühl sein. Nun – keine Sorge: wir werden uns noch der materiellen Armut widmen – aber erst, wenn wir uns der jetzt zufällig aufgedeckten Armut gewidmet haben: Gefühlsarmut. Ich meine damit nicht die Alexithymie, jene Form von Erkrankung, in der der Patient scheinbar jeglichen Zugang zu seinen Gefühlen verloren hat, sondern – viel weitergehend – die generelle Abwesenheit von Gefühlen im Umgang mit der Umwelt. Konzernchefs, Ärzte und Banker, brauchen das, um überhaupt funktionieren und schädliche Nebenwirkungen ihres Treibens tolerieren zu können: sie haben den Wert des „cool seins“ in die Welt gebracht, einen Wert, der heute weitgehend akzeptiert wird.
Natürlich ist es auch weise, keine Gefühle mehr zu haben: wer immer gleichmütig durchs Leben schreitet, wird weniger verletzt – ein deutlicher Vorteil dieser Armut. Mit der gleichen Gelassenheit kann ein Hartz IV-Abhängiger die Börse betrachten: er hat da nichts zu verlieren. Er ist auch sicher vor Anlagebetrügern, Räubern, Versicherungsagenten … was wollen ihm die schon andrehen oder wegnehmen?
Die Gegenseite dieser Gefühlsarmut? Der verzweifelte Versuch, die Gefühle wieder zu bekommen: was nutzt einem das ganze Geld, der ganze Reichtum, wenn man sich nicht an ihm ergötzen kann? Und genau deshalb hat man ihn ja auch angehäuft: um sich daran zu ergötzen! So erklärt sich, warum es in Deutschland Netzwerke von reichen Satanisten gibt (hierzu kann ich momentan keine Quelle nennen, mein Informant aus der Landeskirche ist leider momentan nicht zu erreichen), die im Prinzip nur eine andere Form der handelsüblichen Sado-Maso-Buden darstellen. Neben der absichtlichen Zufügung von Schmerz als letzten Zugang zur eigenen Gefühlswelt gibt es natürlich auch noch Drogen – und den Konsumrausch, mit denen man die emotionale Armut unterdrücken kann. Yachten, eigene Flugzeuge, mehrere Sportwagen, hübsche Call-Girls … alles ein Zeugnis von emotionaler Armut, die in Folge dieses Mangels als „Gier“ für materielle Armut im Umfeld sorgt.
Sie sehen also, was zu tun ist, wenn sie einem solch´ materiell „Reichen“ begegnen: zeigen Sie ihm ihr Mitleid, drücken Sie ihr Bedauern darüber aus, dass das Leben ohne Lust und Genuss an ihm vorbeigeht.
Lust und Genuss? Moment: haben das nicht gerade die Reichen? Wird das nicht durch direkte und indirekte Werbung tagtäglich auf allen Kanälen gepredigt?
Nun – ich kenne einen solchen reichen Menschen. Eigentümer eines der größten Pharmakonzerne Japans, Besitzer einer eigenen Hotelkette, die in erster Linie für Mitarbeiter gedacht ist – einer der reichsten Menschen Japans. Anläßlich einer geplanten Firmenneugründnung in Europa haben wir in kleinem Kreise zusammen gegessen. Was kam zum Vorschein? Ein Mensch, der traurig war über den Verlust der langen Haare seiner Jugend. Mit den Haaren hatte er noch viel mehr verloren seine Freiheit: das Erbe der Firma bestimmte sein Leben in jeder Sekunde. Er konnte mit Milliarden spielen … aber nicht mehr ungezwungen als Hippie (wenn er denn einer war) durch die Gegend wandern. Wie bei allen Managern war die Gefühlswelt zusammengeschrumpft – aber er hatte noch Erinnerungen an den einstigen Reichtum, Erinnerungen, die ein Lächeln auf sein Gesicht zauberten.
Nur bei Managern?
Machen Sie sich mal den Spaß, im reichen deutschen Land Montag Morgens um sieben Uhr an einer x-beliebigen deutschen Stadt zu stehen und die Gesichter der Leute anzuschauen: wie oft sehen sie da überschwängliches Glück? Wieviele singende, tanzende, lachende Menschen laufen Ihnen im Zug über den Weg … selbst wenn der mal pünktlich war?
Armes Land, oder?
Viel ärmer als das historische Griechenland vor 2300 Jahren. Dort wandelte ein Lustphilosoph jemand, der sich vortrefflich auf Lust und Glück verstand: Epikur. Schon für ihn war der deutsche Neureiche ein armer Sack. Bei Wikipedia gibt es einen spannenden Kommentar dazu:
„Daher ist die Einsicht sogar wertvoller als die Philosophie: ihr entstammen alle übrigen Tugenden, weil sie lehrt, dass es nicht möglich ist, lustvoll zu leben, ohne einsichtsvoll, vollkommen und gerecht zu leben, ebenso wenig, einsichtsvoll, vollkommen und gerecht zu leben, ohne lustvoll zu leben.“
Die Lust bedarf der Vernunft, um ein Höchstmaß zu erreichen – wie fern ist deutsche Schulbildung von diesen Einsichten. Ein Beispiel? Gern.
Stellen Sie sich vor, ich lade Sie zu einem Glas Wasser und einem Stück Brot ein. „Ha“, werden Sie jetzt sagen, „ich hatte gerade Wurst und Bier zum Frühstück, was soll ich mit Wasser und Brot“. Wenn Ihnen aber auferlegt wurde, drei Tage nichts zu essen und nichts zu trinken: was meinen Sie wohl, was dieses Glas Wasser und dieses Stück Brot für ein auserlesenes Mal darstellen … erst recht, wenn das Brot nicht verschimmelt ist?
So kann Vernunft Lust steuern, indem sie die Gier bezwingt. Stellen Sie sich weiter vor, Wasser und Brot wären Ihre Alltagsnahrung. Wie oft können Sie Ihr Lustempfinden bis ins Unermessliche steigern – mit Obst, Käse und Marmelade. Sie könnten wieder Kind sein, dass die Welt der Lust verschaffenden Empfindungen noch im hohen Alter ständig neu entdecken kann.
Sie sehen: ein Höchstmaß an Sinnlichkeit ist auch mit Hartz IV möglich.
Wir wollen aber nicht abgleiten und jenen das Wort reden, die zur Kompensation ihrer Lustarmut Konsumgüter, Immobilien und Frauen in unüberschaubarer Menge vernunftlos aufhäufen und dabei den ganzen Planeten an den Rand der Vernichtung gebracht haben: sie könnten in Versuchung geraten, die Regelsätze noch weiter zu reduzieren, um sich selbst noch den zehnten Sportwagen zu kaufen.
„Klagen auf hohem Niveau“ wäre die Folge einer solchen Argumentationskette – was eine Lüge ist.
Der typische Hartz-IV-Empfänger in Deutschland erlebt nämlich eine Armut, die unbeschreiblich groß ist – verglichen mit dem Lebensalltag eines Epikur.
Er ist arm an Sicherheit. Jederzeit kann er ins Amt einbestellt werden. Oft erlebt er dort Unvernunft in unbeschreiblichem Ausmaß (um nicht zu sagen: schlichtweg Dummheit), der er in seiner Existenz hilflos ausgeliefert ist. Ebenso ist er arm an Freiheit – viele kulturelle Veranstaltungen bleiben ihm verschlossen, in einer Hochpreisgesellschaft fehlen ihm die Tauschmittel, um an vielen Formen der Geselligkeit teilzunehmen.
Er ist arm an Freiheit: das Gebot der ständigen telefonischen Erreichbarkeit macht ihn zum Gefangenen seiner eigenen Behausung. Lebt er in Städten, wird es umso schlimmer: die sinnlich wahrnehmbare Umwelt strotzt nur so von Häßlichkeit und Lärm, die schon für reiche Menschen schwer zu ertragen ist, die sinnliches Ausstattung des Menschen ist auf „Wald“ geprägt – Harmonie in Farbe und Form rundherum.
Er ist arm an Gerechtigkeit: rundherum sonnen sich Steuerhinterzieher und Anlagebetrüger, Arbeitskraftausbeuter und Steuerbanditen (z.B. Automauterfinder) in sinnlos vergeudetem Reichtum, während er – mag er auch noch so ein edler Charakter von feinstem Geiste sein – würdelos vom Wachdienst gegängelt in einer langen Schlange im Arbeitsamt anstehen muss, um seine Almosen auf entwürdigendste Art und Weise zu empfangen … unabhängig davon, dass er das Treiben der „Herren der Welt“ womöglich dreißig Jahre kräftig mitfinanziert hat.
Er ist arm an Frieden: jederzeit kann das Telefon klingeln, jederzeit kann ein unfähiger Sachbearbeiter seinen Unmut über einen ausschütten – oder an der Vertreibung und sozialen Vernichtung arbeiten – ein Putzjob in München für Frauen aus Berlin: schon startet das Drama.
Er ist arm an Wohlstand: in einem superreichen Land wird ihm täglich auf allen Kanälen demonstriert, was für ihn alles unerreichbar ist – Reisen, Frauen, Autos, Häuser, Technik und vieles mehr. Früher hatte man sich so die Hölle vorgestellt: das, wonach einem gelüstet (und wozu man durch Schule und Medien auch erzogen wurde, um ein „gelingendes Leben“ zu haben) wird einem vor die Nase gehalten … aber es bleibt auf ewig unerreichbar – eine moderne Form von Folter.
Wo sind wir nun wieder gelandet?
Gestern wähnten wir uns noch in einem reichen Land – und jetzt?
Ein Reich des Bösen haben wir vor uns. Häßlich, laut, gemein. Es macht unglücklich und depressiv, frisst seine natürliche Umwelt auf … und endet – wenn es nicht aufgehalten wird – in wenigen hundert Jahren mit der kompletten Asphaltierung des Reichtums der Natur, deren Vielfalt wir für den sinnlichen Genuss dringend brauchen.
Zu unglaubwürdig?
Genau diese Armut wurde dereinst von einer afrikanischen Studentin beschrieben – leider finde ich im Internet keine zitierfähige Quelle dazu, so muss ich also diese Erfahrung aus der Erinnerung schreiben – gelesen habe ich es vor vielleicht zwanzig Jahren im Spiegel. Jene Studentin hatte mit Fördergeldern einen kleinen Film über Deutschland gedreht – und hier unermessliche Armut gefunden. Armut an menschlicher Wärme, Armut an sinnlichen Eindrücken, Armut an Lust und Glück. Das Land NRW strich schnell die Förderung für diesen Film, ob er je beendet wurde, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Fundierte Kritik an der vielfältigen Armut in Deutschland ist nicht erwünscht, zwanzig Jahre nach diesem Ereignis bestimmt die Bundeskanzlerin die emotionale Lage des Landes per Erlass: „DEUTSCHLAND GEHT ES GUT“ – und wer dem widerspricht, ist ein Terrorist.
Glauben Sie der Kanzlerin? Ja?
Dann gehen Sie doch die oben genannten Armutsfaktoren nochmal durch … diesmal jedoch mit einem Arbeitnehmer als Hauptdarsteller. Merken Sie, dass die Sätze immer noch funktionieren, nur dass der „Chef“ und die Firma die Rolle des „Amtes“ übernehmen?
Nur – für den Arbeitnehmer wird alles noch schlimmer: er wird zusätzlich auch noch arm an Gedanken … wenn er in der Hölle des Großraumbüros sitzt und dort sein Leben verplempert, im Außendienst gedanklich völlig durch die Anforderungen des Straßenverkehrs vereinnahmt wird oder im Lärm der industriellen Produktion untergeht: dorther stammt auch der Hass auf die Arbeitslosen, die aus diesen Positionen heraus als „reich“ erscheinen … reich an Lebenszeit, die sie für sich selber haben. Der gleiche Hass trieb vor hundert Jahren die Revolutionäre auf die Straße.
Und die Superreichen?
Lauschen wir einem, der seine Millionen verschenkt hat und mit 50 Euro im Monat für seinen persönlichen Bedarf (also: Luxusausgaben bzw. Taschengeld) auskommen möchte: dem prinzipiell millionenschweren Bestsellerautor und Mönch Anselm Grün, der sich zu den ständig steigenden Ängsten und Depressionen in der deutschen Gesellschaft äußert siehe Süddeutsche:
Diese Leiden sind Ausdruck der maßlosen Ansprüche an sich selber: Ich muss immer cool, erfolgreich und gut gelaunt sein. Irgendwann spüren die Leute sich selber nicht mehr, sie haben kein Selbstwertgefühl mehr. Das ist ja die Gefahr des Geldes. Geld ist nicht an sich schlecht, aber es hat die Tendenz, die Maske zu verstärken. Irgendwann geht im Innern der Menschen etwas kaputt. Ich will Reichtum nicht verurteilen, das tut auch die Bibel nicht. Aber wenn das Geld im Mittelpunkt steht, wird es leer im Menschen.
Das ist also der Gipfel der westlichen Lebensweise … je reicher, umso leerer, je leerer, umso kaputter – eine Form von Tod mitten im Leben. Ich kenne solche Männer – werden sie von ihren Frauen verlassen, die in dem goldenen Käfig ihre eigenen Lebendigkeit ersticken sehen, stehen sie hilflos im Raum und beteuern, dass sie ihr alles kaufen würden, was sie nur will … und zeigen so, wie unglaublich leer und arm sie geworden sind.
Andererseits kenne ich eine junge Frau, die von der schwer erarbeiteten Stelle im Büro freiwillig zurück ans Fließband gegangen ist, weil sie dort besser den Reichtum ihrer Gedanken auskosten konnte – eine Geschichte, die an deutschen Schulen leider nicht gelehrt wird.
Was dort gelehrt wird?
Das was die Industrie will: „kauf´ Dir was, dann bist Du was“.
Was man ist?
Irgendwann leer und kaputt. Nur: das sagt einem keiner.