Sonntag 6.7.2014 Eifel. Wieder mal Sonntag. Ich habe die schwer verdauliche Tatsache zu kompensieren, dass sich die Welt um mich herum zum Arschlochtum entschieden hat. Ja – ich hatte aufgeführt, dass man diese WM die Wahl hat: Widerstand leisten gegen die brutale, tödliche Gewalt im Umfeld der WM – oder „Schlaaaaaaaaand“ blöken und Arschloch sein. Endlich hätte man mal ein Zeichen setzen können … und die Zeit nutzen können, sich mal mit deutscher Literatur zu beschäftigen, mit politischer Bildung – oder den Rahmenbedingungen der eigenen Zukunft. Stattdessen: „Schlaaaaaaaaaand“, Grillwurst und Bierbauch.
Ich habe wohl noch nicht deutlich genug geschrieben, wo die Reise hingeht – und das man mit Sprüchen wie „80 Millionen sind ein Team“ nicht dagegen ankommt … mal davon abgesehen, dass das eigentliche, wirkliche Deutschlandteam nur geschätzte 2 Millionen Mitglieder hat: die Oberschicht und ihre Funktionselite. Da kann man noch so laut brüllen, noch so fest glauben und noch so toll wünschen: 78 Millionen Deutsche sind schon längst draußen. Vielleicht ist das aber der Urgrund des nationalistischen Wahns, der sich auf den Straßen austobt: die innige Wunsch, endlich mal wieder dazu zu gehören. Endlich mal IRGENDWO dazu zu gehören. Und wenn schon sonst nicht – dann wenigstens zu Deutschland.
Aber: ich kann ja heute mal eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die zum Teil meine ist, zum Teil die eines guten Freundes, der gerade in Deutschland bewusst und gezielt von der Behörde vom Leben zum Tode befördert wird. Namen, Daten, Fakten lasse ich mal weg. Ist ja auch egal, denn am Ende der Geschichte wird man sehen: es kann JEDEN treffen.
Zuerst zu meinen Erfahrungen. Wie ich gelegentlich erwähne, habe ich Erfahrungen mit dem deutschen Gesundheitssystem – auch als Patient. Es ist sehr gut gemeint, dieses System, sicher. Jedenfalls … an der Oberfläche. Schaut man etwas tiefer, so kann man schon nervös werden: war mal dabei, als „Kathetern“ geübt wurde. Ja – geübt. Irgendwann müssen die jungen Mediziner das praktisch üben, sonst gelingt der Eingriff im Ernstfall nicht. Für Übungszwecke nimmt man gerne alleinstehende, kerngesunde Menschen. Sie müssen kerngesund sein, um Fehler bei den Übungen zu tolerieren … und alleinstehend, weil „dabei schon mal jemand auf dem Tisch liegen bleibt“. Meine eigene Mutter war mal zu so einer Übung vorgesehen …. aber da habe ich massiv interveniert. Da musste dann jemand anders an den Tisch.
Das ganze ist viele Jahre her, heute wird sicher nur noch am PC geübt (was ich persönlich nicht glaube): die Anekdote sollte nur zeigen, dass ein Menschenleben in Deutschland nicht ganz so viel wert ist, wie man meint – manchmal müssen einzelne alternativlos dem Wohle aller geopfert werden. Das soll jetzt auch kein Vorwurf sein: der Oberarzt, der die OP leitete, ist einer der feinsten Menschen gewesen, die ich kennengelernt habe. Er hat Blut und Wasser bei der Übung geschwitzt – aus Angst davor, dass wieder mal was schiefgeht.
Eine ganz andere Erfahrung war meine eigene. Rezidivierende Lumbalischialgien (also: große Schmerzen bei der kleinsten falschen Bewegung) plus doppelter Bandscheibenvorfall brachten mich mit 46 Jahren zum Orthopäden, der mir locker verkündete, dass mir bei bleibender Fahrbelastung in wenigen Jahren der Rollstuhl droht: die langen Reisen, die viele Arbeit hatte ihren Tribut gefordert. Wie viele andere auch musste ich merken, dass Arbeit nicht REICH sondern KRANK macht.
Auf meine verwirrte Frage, was ich denn jetzt tun sollte, wusste er keine Antwort, außer: Autofahren sein lassen. Sofort, unbedingt. Das unser Unternehmen dafür kein Verständnis haben würde, war mir recht schnell klar. Empört erwähnte ich, dass er doch wohl nicht vorhaben würde, mich mit 46 Jahren der Frührente auszuliefern – doch darauf hin kam nur ein Lachen.
„Wissen Sie – vor zehn Jahren hätte ich ihnen jetzt den Gang zur Rentenkasse empfohlen. Heute jedoch sind die Richtlinien enger. Die (gemeint war: die Rentenkasse) schicken Sie in eine ihrer Rehakliniken, die schreiben sie gesund und dann können Sie im Straßenbau arbeiten“.
Diese lapidare Aussage bestätigt auch die Statistik (gbe-bund.de): waren zwischen 1980 und 1995 im Schnitt 100000 Menschen pro Jahr in diese Frühverrentung geschickt worden, fiel die Zahl seitdem rapide bergab: 2002 waren es noch 59 000 – bezogen auf den Westen Deutschlands.
Sie werden nun sagen: das sind ältere Zahlen. Das stimmt. Die neueren Zahlen sind kostenpflichtig – und das übersteigt unser Budget. Das braucht uns aber nicht zu stören – was wir nur bemerken sollten, ist: hier wurden durch staatlichen Eingriff jährlich 50000 kranke Menschen für gesund erklärt, obwohl sie krank waren: Heilung durch Änderung der Definition. Mit der Methode kann man im Prinzip die Gesundheitskosten auf Null senken – wenn man es genau nimmt.
Gut – so weit sind wir noch nicht. Noch nicht.
Versprochen waren aber ein paar Worte über den laufenden Sozialmord in Deutschland – und die kann ich jetzt keinem mehr ersparen.
Bei dem aktuellen Fall handelt es sich um einen Mann Mitte fünfzig. Allein erziehender Vater. Schwer herzkrank. Landet regelmäßig in der Notaufnahme der Klinik. Er selbst weiß, wie schlecht es um ihn steht: Reisen außerhalb des Einzugsgebietes einer Klinik unternimmt er nicht mehr, dafür ist er zur wandelnden Apotheke geworden.
Natürlich empfahlen die Ärzte den einzig möglichen Weg, dieser Situation zu entkommen: die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Zuvor war dieser Mann Opfer des Hartz IV-Systems, musste sich beständig mit ausbleibenden Zahlungen herumschlagen, mehrere belastende Prozesse führen – und jede Woche ein paar Bewerbungen schreiben … Bewerbungen, die angesichts seiner gesundheitlichen Situation vollkommen unsinnig waren, zumal seine Restgesundheit weite Reisen zu Vorstellungsgesprächen unmöglich machte.
Nun – glücklicherweise überlebte er diesen Streß des Jobcenters und erhielt nach Gutachten eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, die ihn und seine „Bedarfsgemeinschaft“ (so nennt man in Deutschland die Familien von Arbeitslosen) vom Bewerbungsjoch befreite und die Kinder zurückholte in den Kreis jener Menschen, die über ordentliche Lebensberechtigungsscheine verfügen.
Der Fehler war: die Rente wurde auf zwei Jahre begrenzt. Alle zwei Jahre stand eine kostenintensive Neubeurteilung des Gesundheitszustandes an … durch eine jener Kliniken, die ich eingangs erwähnte.
Der Laie stutzt: kann denn eine schwere Herzerkrankung spontan durch Wunder geheilt werden?
Nein – natürlich nicht.
Nicht durch Wunder … aber durch beständige Neudefinition des Restleistungsvermögens. Und hier verbrachte die Klinik in einem neuen Gutachten selbst ein kleines Wunder: der zuvor schwer herzkranke Mann, der zu 100 % erwerbsunfähig war (und dessen Gesundheitszustand sich meines Erachtens noch weiter verschlechtert hatte), war auf einmal wieder arbeitsfähig. Vier Stunden am Tag bei leichter, sitzender Tätigkeit, Anreise zum Arbeitsplatz nicht mitgerechnet.
Nun muss man wissen: die Kliniken, die diese Gutachten schreiben, werden KOMPLETT von der Rentenversicherung finanziert. Die leben von diesen Gutachten. Und die Rentenversicherung kann diese Kliniken nur bezahlen, wenn jedes Jahr genug kranke Menschen aus der Rente HERAUSGESCHRIEBEN WERDEN. Mit der Rente, die dort gespart wird, werden die ärztlichen Gutachter der Kliniken finanziert …. und zwar nicht schlecht.
Man merkt, warum ich diese Geschichte in lockerer Erzählform schreibe, oder? Würde ich sie mit Daten und Fakten aus konkreten Fällen belegen, mit Namen und Einkommen aus dem Bereich: es würde Klagen hageln.
Aber: nur zum Beleg – hier die Aufgabe der vollständig im BESITZ DER RENTENVERSICHERUNG befindlichen Kliniken (siehe: Deutsche Rentenversicherung):
Für die Durchführung der Maßnahmen zur Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit (Rehabilitation) stehen der Deutschen Rentenversicherung Westfalen fünf eigene Kliniken zur Verfügung.
Patienten erwarten von ihrer Rehabilitation Hilfestellungen für ihren Alltag und ihren Beruf. Das Reha-Team in unseren Kliniken ist darauf bestens eingestellt. Ärzte, Pflegekräfte und Therapeuten arbeiten gemeinsam mit den Patienten an der erfolgreichen
(Wieder-) Herstellung der Leistungsfähigkeit. Zielvereinbarungen zu Beginn der Rehabilitation, ein auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten abgestimmter Therapieplan sowie Empfehlungen, wie sie das Erlernte in der Zeit nach der Rehabilitation umsetzen können, dienen diesem Ziel. In dem angenehmen Ambiente unserer Kliniken fühlen sich sowohl Patienten als auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wohl – eine Grundvoraussetzung für den nachhaltigen Rehabilitationserfolg.
Hört sich schön an, oder? So fein nach Hilfe und Heilungswundern. „Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit in für Ärzte und Mitarbeiter angenehmen Ambiente der Rehalklinik“. Dort gelingen medizinische Wunder, zu denen scheinbar keine hochspezialisite Universitätsklinik in der Lage ist: Lahme können wieder gehen, Blinde wieder sehen, Tote werden zum Leben erweckt: Christus selbst scheint dort Chefarzt zu sein.
Befangenheit der ärztlichen Gutachter, die ihr „angenehmes Ambiente“ den durch „Heilungswunder“ eingesparten Renten verdanken: wo denken Sie da nur hin! Es gibt sogar ein Zentrum für onkologische Rehabilitation – offenbar können die sogar Krebs heilen.
Scherz beiseite, denn es gibt auch eine ernste Seite: jener allein erziehende Vater, schwer Herzkrank, alleinerziehend, der nun … wieder beim Jobcenter landen wird.
Sie wissen, dass Herzkranke keinen Streß ertragen, oder?
Sie wissen, dass Jobcenter vor allem mit DRUCK arbeiten, oder? Per Gesetz – nicht per Bösartigkeit der Mitarbeiter … die in manchen Fällen aber die Situation noch verschärfen kann.
Jetzt drohen wieder sinnlose Bewerbungen. Wieder droht – im Falle nicht ordnungsgemäß durchgeführter Befehle des Jobcenter – der Verlust von Nahrung, Wasser und Obdach durch staatliche Sanktionen des Lebensminimums.
Was aber ganz konkret droht, ist: der Tod des Delinquenten.
Darum spreche ich von Sozialmord. Was hier geschieht, ist kein Unfall. Hier werden Menschen, die auf Streß mit tödlichen Infarkten reagieren, größtmöglichem Druck ausgesetzt: BEWUSST und ABSICHTLICH. Vermutlich läuft hier schon seit Jahren ein Massenmord mitten in Deutschland, den wir nur nicht bemerken, weil niemand die Toten zählt. Darf ich einfach mal schätzen? Ganz frech?
50000 pro Jahr. All die, die per „Heilungswunder“ aus der Erwerbsunfähigkeitsrente heraugefallen sind und dann von der Maschine Jobcenter zerfleischt werden, weil sie dort einem Streß zum Opfer fallen, der schon Gesunde krank macht – und Kranke tot.
Na – immer noch schön am „Schlaaaaaaaaand“ blöken?