Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: ich bin ein Leistungsträger, Jahrgang 1959. Ein echter. Studienabschluß mit Einserexamen, mehrere Berufsausbildungen (berufsbegleitend), sechsstelliges Jahreseinkommen, Renault Grand Espace mit allen Extras als Firmenwagen. Gehaltsvervierfachung in zehn Jahren, Umsatzrekord 1,6 Millionen mit einem einzigen Telefonanruf im Geschäft mit Arzneimittelimporten, umsatzstärkster Mitarbeiter bei dem größten Konzern der Welt und dem erfolgreichsten Konzern auf deutschem Boden – beide existieren nicht mehr. Zusatzqualifikation in Gesprächsausbildung, Mitarbeiterführung und strategischer Planung, Durchführung klinischer Studien und Veranstaltungsmanagement auf höchstem Niveau. Eine erfolgreiche Geschichte, könnte man meinen … wenn da nicht eine Kleinigkeit vorgefallen wäre.
Mir fehlen zwei Bandscheiben. Verschleiß – bedingt durch 1 000 000 Kilometer auf deutschen Autobahnen. Begann im Jahre 2000 – habe ich aber nicht ernst genommen. Außerdem musste ich eine neue Firma aufbauen, da zählt jeder Mann, da war an „kränkeln“ nicht zu denken. 2005 räumte ich dann eine Kiste mit Aktenordnern von links nach rechts – leere Aktenordner. Ein Klacks für jemanden, der als Hobby schwere Gartenarbeit hat (Landschaftsgestaltung – wollte einen eigenen Park auf 6000 m2 Grundstück bauen – war mein eigenes Grundstück, da ging das). Was geschah? Ein punktförmiger Schmerz in der Pobacke, der sich rasend schnell zu einem Flächenbrand im ganzen linken Bein entwickelte. Geschieht seitdem regelmäßig, wenn ich Gewichte über 2 Kilogramm bewege. Zudem kann ich nicht mehr: stehen, sitzen oder gehen. Das alles muss abwechselnd geschehen. Teste ich jede Woche – ich arbeite nebenher als Lerntherapeut. 1,5 Stunden sitzen und gehen … dann rase ich nach Hause, um die empfohlene stabile Seitenlage auf hartem Untergrund einzunehmen.
Hausarbeit ist eine Qual (vor allem bücken geht gar nicht), Gartenarbeit und Schnee schaufeln sind Folter – muss ich trotzdem machen. Habe kein Geld für Reinigungsfachkraft, Gärtner oder Räumdienst.
Schmerzmittel nehme ich selten – habe jahrelang Seminare für Schmerztherapeuten organisiert und deren Botschaft verinnerlicht: nimm nichts, wenn Du wirklich was hast. Schmerzmittel haben enorme Nebenwirkungen und machen süchtig. Viele sind trotzdem frei verkäuflich: Politik und Wirtschaft ist es egal, dass die Leute sich zu Krüppeln machen – Hauptsache ist: man verdient noch an ihnen.
Das Ergebnis der Untersuchung des Orthopäden war vernichtend: dass war es jetzt mit dem Autofahren. Noch zwei Jahre weiter diese Kilometerleistung (100 000 im Jahr), dann droht der Rollstuhl. Sechs Wochen habe ich es weiter versucht: stabile Seitenlage bis Sonntag, dann Montag wieder los. Geschafft habe ich es bis Bonn … dann ging nichts mehr. Urteil des Orthopäden – nochmal: klarer Fall, dass war es mit dem Autofahren. Die Bandscheiben sind fort, jeder weiterer Kilometer setzt die Restgesundheit aufs Spiel.
Von der im Aufbau befindlichen Firma kam dann auch die Kündigung wegen Krankheit, dank von rot-grün aufgeweichtem Kündigungsschutz ging die auch durch. 5000 Euro Abfindung (ein Witz), das war es dann. Die 1,6 Millionen, die ich kurz zuvor in die Firmenkasse geschaufelt hatte, haben sie behalten.
Beruflich bedingt kannte ich knapp 5000 Ärzte – leider waren viele weit weg, und einige Fahrten hatte ich schon nach fünf Kilometern abbrechen müssen, weil die Schmerzintensität ein Niveau erreichte, dass bei weiterer Steigerung das verantwortungsvolle Führen eines Kraftfahrzeuges in Frage stellte … es gibt sogar Gesetze, die verbieten, in einem solchen Zustand Auto zu fahren. Zu einigen befreundeten Medizinern habe ich es dann doch geschafft, um mir ein Urteil über meine Krankheit einzuholen.
„Wenn Du vor zehn Jahren gekommen wärst, hättest du jetzt die Vollrente“ – so die klare Aussagen – „aber jetzt haben wir Vorschriften, die uns sehr einengen. Weiß auch nicht, was Du jetzt machen kannst.“
Geht Millionen anderen auch so, habe ich später gehört. Die landen jetzt ALLE bei Hartz IV anstatt bei der Rentenversicherung … die dafür aber enorme Überschüsse erwirtschaftet, von denen die Politik letztlich nicht funktionierende Flughäfen und unsinnige Bahnhöfe baut oder militärische Abenteuer im Ausland finanziert.
Das Arbeitsamt war eine klare Hilfe: „mit dem Rücken können Sie nichts mehr machen – wir konzentrieren uns außerdem auf die Jüngeren“. Das war verständlich – ebenso wie verständlich war, dass Unternehmen keine Verkaufsleiter gebrauchen können, die nicht zu Kundengesprächen ausrücken können. Große können das – doch das war ein kleines Unternehmen. Neu im Aufbau – fand ich damals sehr interessant. War mein Traumjob – nachdem ich festgestellt hatte, dass in den Konzernen Außendienst zu Drückerkolonnen umgebaut wurde, der Umsatz um jeden Preis machen mußte – auch wenn man über Leichen ging. Nun – die Leichen sieht man inzwischen auch mal bei Spiegel-Online … will das Thema hier aber nicht vertiefen.
Während ich noch Arbeitslosengeld 1 bezog und mich um neue Arbeit bemühte (was mit dem Rücken wirklich „mühsam“war), bekam ich die erste Post von der ARGE: ein Stellenangebot im Außendienst. Das ich gerade frisch gekündigt war, weil ich Außendienst nicht mehr leisten konnte, spielte keine Rolle: sollte ja auch nur halbtags sein – für eine Versicherung, die meine Kontakte zu Ärzten nutzen wollte. „Halbtags“ bezog sich auf die Bezahlung: vier Tage Arbeit die Woche, zwei davon wurden bezahlt. So was ging im Jahre 2006. Man drohte mir auch mit der Streichung aller Leistungen … die ich noch gar nicht erhielt.
Ich lernte mich wundern.
Natürlich klappte es nicht mit den Bewerbungen – der erste Orthopäde hatte einen doppelten Bandscheibenvorfall übersehen und eine Behandlung eingeleitet, die den Zustand noch verschlechterte (Kommentar: KANN NICHT SEIN, der Doktor ist bei seinen Kollegen allerdings bekannt dafür, dass seine Fähigkeit Bandscheibenvorfälle zu erkennen, nicht sehr ausgeprägt ist), was der Arbeitsfähigkeit nicht gut tat: ich pendelte zwischen Therapie und stabiler Seitenlage, bis ich die Nase voll hatte und mich kurzerhand an einen Meinungsbildner wandte, um endlich Klarheit über meinen Gesundheitszustand zu bekommen und zu erfahren, was ich jetzt tun könnte, um dieses lästige Fahrgestell wieder in Form zu bringen. Die Antwort war deutlich: NICHTS. Man konnte da viel behandeln (sprich: daran verdienen), aber wirklich helfen würde da gar nichts. Alles nur Beschäftigungskosmetik für die Gesundheitsindustrie, angefeuert durch die Tatsache, dass die Politik die Verrentung gestrichen hatte. Viele Behandlungen würden aber das Problem verschlimmern … weshalb er riet, davon Abstand zu nehmen, wenn es nur irgendwie geht.
Für die Menschen – einfach nur noch eine Qual.
Auch die Antwort der Jobvermittler war klar: „Sie sind über vierzig – davon habe ich schon etliche in der Kartei. Keine Ahnung, was Sie jetzt machen sollen – mit dem Rücken“.
Ein Begleitbesuch bei dem Jobcenter (bezog immer noch ALG 1) zeigte mir meine Zukunft. „Also: einfach so ein Zettel von irgendeinem Arzt, der interessiert mich nicht. Da müssen Sie erstmal zu unserem medizinischen Dienst, bevor ich an irgendeine Krankheit glaube“.
Ich wußte also, was mich erwartete – und begab mich auf einen Weg, den ich gar nicht wollte – noch kannte. Im Rahmen der laufenden Scheidung (die sehr häßlich, blutig und wahnhaft war, aber verständlich, wenn man bedenkt, das Frauen, die für sich das „Versorgungsmodell“ gewählt haben, ziemlich aufgeschmissen sind, wenn der Versorger nur noch „stabile Seitenlage“ kann) hatten wir die Leiterin der Familienhilfe der Caritas zu Besuch, die etwas von „Berufsunfähigkeitsrente“ erzählte. Ich war verblüfft – ich und Rente? Ich wollte auch gar keine … die Männer in meiner Familie starben durchweg kurz nach der Verrentung. Außerdem war ich noch voller Hoffnungen: ein halbes Dutzend Berufsausbildungen und exzellente Zeugnisse mußten doch für irgend etwas gut sein?
Waren sie aber nicht.
„Chronisch krank“ … ist kein gutes Aushängeschild für eine Bewerbung.
Es kam, wie von den Ärzten vorausgesagt: Rente gab es erstmal nicht, dafür eine Warnung vom Orthopäden: „Wenn Sie Ärger machen, schicken „die“ sie in eine „Kur“ – danach werden Sie fit für den Straßenbau geschrieben … egal, wie es Ihnen wirklich geht“.
Eine klare Warnung … aber falsche Adresse. Ich lasse mich nicht gerne als Simulant darstellen. Also – hin zu den Gutachtern. Eine lustige Reise: die Rentenversicherung schickte mich zu einem Rheumatologen, der mir bescheinigte, dass meine Rückenprobleme durch die Beziehung zu meiner Mutter entstünden, Rheuma hätte ich jedoch nicht.
Hatte ich auch nie behauptet – aber da ich kein Rheuma hatte, wurde der Rentenantrag abgelehnt.
Nun war ich ja vorgewarnt … hatte also gleichzeitig beim Versorgungsamt die Feststellung des Grades der Behinderung beantragt. Auch hier mußten Gutachten entscheiden, denn – wie von Ärzten vorhergesagt – gab es erstmal die standardmäßige Ablehnung durch niedergelassene Vertragsärzte, die eindeutig feststellten, dass ich völlig gesund bin … nur in einem Nebensatz erwähnten, dass ich mich nicht mehr schmerzfrei bewegen kann. Das reichte dem Sozialgericht dann, eigene Gutachten anzufordern, die belegten, dass 40 % Behinderung plus „deutlich engeschränkte Beweglichkeit“ zu attestieren sein (auch hier hatte man mich dann doch letztlich hereingelegt – 50 % wären gangbar und möglich gewesen … ich wußte jedoch nicht, welche Bedeutung dieser Zahl zukam. Mir ging es nur darum, der Rentenkasse – und dem Arbeitsamt – zu beweisen, dass ich wohl in der Tat ein wenig krank war).
Während des Prozesses kamen mir immer wieder viele Menschen in den Sinn, die diesen Streß in dieser Situation gar nicht durchgehalten hätten. Was macht eigentlich jemand ohne knallharte Schulung in der „härtesten Branche Deutschlands“, der einem solchen Terror ausgeliefert ist?
Vier Gutachten wurden erstellt, bis ich endlich zu einem national anerkannten Facharzt in die Klinik kam. Für die Leser ein Tipp: NIEMALS von niedergelassenen Ärzten untersuchen lassen, die werden für ihre Gutachten bezahlt – und erhalten nur neue Aufträge bei „zufriedenstellender Leistung“. Der Oberarzt der Klinik kam … nach zwei Jahren … zu dem Ergebnis, dass ich unheilbar krank sei – und enorm im Alltag eingeschränkt. Würde man schon sehen, wenn man mich beobachtet, wie ich gehe und unwillkürliche Ausweichbewegungen mache, um den Schmerzen zu entgehen.
Es waren ziemlich bescheuerte Jahre, die einem Leistunsträger nicht leicht fielen: hier wurden enorme Kosten ohne großen Sinn verursacht. Man merkte, warum die Kosten im Gesundheitswesen so hoch waren.
Mitlerweile arbeitete ich wieder: Lerntherapie. Berufsbegleitend hatte ich eine Ausbildung gemacht, um die Legasthenie meiner eigenen Kinder besser zu verstehen. Die Arbeitsmöglichkeiten waren beschränkt, die Eltern mußten die Therapie privat (oder über Jugendamt bzw. Jobcenter) bezahlen: das motiviert nicht gerade zu großen Anstrengungen, die Kindern in Massen zur Therapie zu bringen – trotz guter Ergebnisse. Nach mehreren Versuchen merkte ich, was ich noch kann: 1,5 Stunden Unterricht am Stück – das war es dann.
Letztendlich entschied auch ein Gericht, dass mir eine Rente zustand – auch der Richterin fiel nichts ein, was ich noch machen könnte. Es gabe also eine Berufsunfähigkeitsrente, ich bezahlte meine Schulden bei der Arge … blieb allerdings Vorsitzender einer Bedarfsgemeinschaft. Ja – die Politik hatte die Rente so weit minimiert, dass man über dem Regelsatz landete (aber nur als Spitzenverdiener) – aber keine Familie davon versorgen konnte. Man hat halt heutzutage keine Kinder … ich hatte aber noch einige davon.
Das war schon ein Schock, als der Rentenbescheid kam – und gleichzeitig wurde mir bewußt, wie dankbar ich sein mußte, dass ich dieses Geschenk bekam: die Regierung hatte die Rente komplett gestrichen, ich war einer der letzten Menschen, die sie noch bekam. Ich erinnerte mich daran, wie viel Steuern ich in meinem Leben gezahlt hatte, wie viel Umsatz ich erwirtschaftet hatte, wieviel Geld ich aus dem Ausland nach Deutschland geschafft hatte und fragte mich: wofür habe ich das eigentlich alles bezahlt?
Bei der ARGE (heute: Jobcenter) vor Ort wurde ich mit der Zeit freundlich behandelt, nicht mehr angeschrien, es gab auch keine Unterstellungen mehr, dafür aber die Versicherung, „das man ja wisse, dass ich kein normaler Arbeitsloser sei“.
Aber das war falsch. Ich war ein normaler Arbeitsloser. Nur durch Zufall bekam ich eine Rente, einen kleinen Nebenjob … und bald auch noch ein Zusatzeinkommen durch Tantiemen. Von dem Geld hatte ich so gut wie nichts – floss alles in den Topf der Bedarfsgemeinschaft, was mich nicht sonderlich störte.
Wäre ich 1961 geboren … hätte es keine Rente gegeben. Und selbst heute noch würde ich keine Vollrente bekommen, weil ich ja noch in einem Pförtnerhäuschen mit Notliege arbeiten könnte – wenn man mir einen Ersatzmann an die Seite stellt, der in Phasen der „stabilen Seitenlage“ kurz für mich einspringt. Das Häuschen müßte geheizt sein – der Rücken reagiert auf Kälte nicht gut. Verrückt, oder? So etwas schreiben die in Gesetze. Ich kenne einen 39-jährigen mit der gleichen Symptomatik: der verzweifelt am Leben, steht kurz vor dem Suizid, weil der den Ansprüchen des Gesetzgebers (ausgeführt duch Jobcenter), nicht mehr genügt.
An der Arbeit der Jobcentermitarbeiter vor Ort habe ich nichts auszusetzen – was vielleicht manchen ärgern wird. Sehr konstruktive, realistische Leute. Sie konnten nichts dafür, dass ich mit meiner Familie fast erfroren wäre, weil der Winter kälter als die Heizkostenpauschale hoch war. Wir haben die kleinen Räume mit Teelichtern geheizt – ging auch. Helfen durfte und konnte keiner: die Gesetzeslage war eng, letztlich haben die Vermieter uns das Leben gerettet, in dem sie den Tank – entgegen der Vereinbarungen – auf eigene Kosten füllten, und inzwischen dürfen die Mitarbeiter des Jobcenters alle Heizkosten erstatten … und nicht nur die, die theoretisch im Durschnittswinter anfallen.
Wäre sonst eng für das Neugeborene (aus einer neuen Beziehung) geworden – Stearin in der Luft schadet der Lunge. Minus 11 Grad Zimmertemperatur aber auch.
Ist auch sinnvoll, dass der Tank inzwischen komplett gefüllt wird – anstatt nur immer Monat für Monat mit den kleinen Beträgen der Heizkostenpauschale.
Natürlich wollte ich auch Arbeit – bin eher so ein „Alpha-Typ“. Also habe ich – als Arbeitsloser – eine Gleichstellung mit einem Schwerbehinderten beantragt, wie sie mir bei meiner Behinderung gesetzlich zusteht. Ich habe sie auch bekommen – nach langen Gerichtsverhandlungen. Was beklagt das Arbeitsamt? Ich sei ja generell überhaupt nicht vermittlungsfähig, da würde mir die Gleichstellung auch nichts bringen. Die bringt mir in der Tat nichts – es sei denn, ich finde wirklich mal einen Job, bei dem ich eine Chance hätte, bevorzugt als Schwerbehinderter eingestellt zu werden. Einen Job mit Notliege für die stabile Seitenlage – habe ja nicht nur Rente, bin auch noch wirklich krank.
Viel interessanter war jedoch die Empfehlung des Vertreters des Arbeitsamtes aus dem fernen Köln – offen vor Gericht geäußert: ich könne doch einfach bei Bewerbungen meine Krankheit verschweigen. Weiß der eigentlich, wie problematisch chronisch kranke Mitarbeiter für kleine Firmen in einem Verdrängungsmarkt sind? Man riskiert die Existenz des ganzen Unternehmens … doch das ist dem Amt egal – nach Kündigung bekäme ich ja dann wieder ALG 1 und könnte so bis zur Rente „durcharbeiten“, ohne wirklich arbeiten zu müssen….der „Gleichbehandlungsbescheid“ wäre nämlich nur ein zusätzliches Vermittlungshemmnis.
Wissen die überhaupt noch, was die wirklich so reden?
Was mir nebenbei auffiel: wenn ich als überhaupt nicht vermittlungsfähig gelte … wieso bekomme ich dann keine Vollrente? Das Geld wäre das Gleiche – aber die Kinder müßten nicht mehr mit dem „Makel“ Hartz IV herumlaufen.
Ja – das ist eine weitere Erfahrung: das ist ein Makel. Ich leide sehr darunter, zu sehen, wie meine Kinder hoffnungsloser werden – die älteren haben sich fast komplett aufgegeben: das permanente Mobbing durch Politik, Medien, Wirtschaft, Schule und Klassenkameraden zeigt Wirkung … allein die Tatsache, dass man keine Geburtstagsparty mit zwanzig Mann feiern kann, grenzt die Zöglinge sozial aus. Zudem tragen die Kinder den Überlebenskampf der Eltern auf den Schulhof.
Nun – meine jüngeren Kinder (wegen denen ich noch „Bedarfsgemeinschaft“ bin) wohnen bei mir. Wie ich gestern erfuhr, sind sie Leistungsträger der Klasse. Kein Wunder: der mathematisch IQ des Jüngsten liegt bei 150 … ist aber zu wenig, um den Hartz-Makel auszugleichen. Sie sind jetzt beide in diesem Schuljahr an der Hauptschule angekommen – Anti-Hartz-Mobbing findet auch dort statt, aber in viel geringerem Ausmaß. Außerdem ist die Hautschule sauberer, vor allem die Toiletten – die Schüler lassen ihren druckbedingten Frust halt weniger am Gebäude oder am Mitschüler ab, weil sie einfach weniger Druck haben.
Auch ist selbst muß sehr vorsichtig agieren: gelte gesellschaftlich als Schmarotzer, Parasit, fauler Säufer und bildungsferner Gesell … und muß mir dass von Leuten sagen lassen, die mit ach und krach den Realschulabschluß geschafft haben und in ihrem ganzen Leben nicht so viel Steuern zahlen werden, wie ich als Beitrag für diese Gemeinschaft geleistet habe. Wäre undenkbar, wenn die Eltern meiner Schüler – oder meine Institutsleitung – mitbekommen würden, das ich so ein „Hartzer“ bin – nachher verführe ich die Kinder noch zur Sauferei. Ebenso muss ich in der Vereinsarbeit vorsichtig sein – auch dort merkt man den zarten Wind des Abscheus vor der Parasitenkaste. Da interessiert es auch keinen, dass ich persönlich gar keine Leistungen bekommen würde, weil ich nebenbei zuviel verdiene.
Aber das – GERADE DASS – ist auch mein Fehler: ich arbeite noch, und das bringt mich in Kontakt mit dem großen Amt in Aachen. Ich merke: es war ein Fehler, sich darum zu bemühen, die Leistungen des Jobcenters zu minimieren … denn dafür werde ich gerade bestraft – nein, schlimmer noch: nicht ich, sondern meine Kinder.
Während alle Menschen im Umfeld – ohne Arbeit – ihren Bewilligungsbescheid haben, habe ich nun überraschend Ärger bekommen … als wenn die Behörde nicht schon genug Ärger macht.
Erst kürzlich hatte meine Nachbarin Überraschungsbesuch vom Ermittlungsdienst des Arbeitsamtes (zwei Herren in schwarzem Leder und weißem BMW aus Köln – dafür ist immer Geld da), die sie peinlich nach unserer Beziehung fragten und in ihrer Wohnung nach Spuren von mir suchten. Ich saß derweil oben und arbeitete an Texten, dachte, sie hätte wieder mal Besuch. Ja – es ist gefährlich mit einem Hartzer zusammen in einem Haus zu wohnen: man ist schnell verdächtig. Das sind kriminelle, gemeine Banditen, auf die man ein Auge haben muss.
Und jetzt – streicht man meinen Kindern die Leistungen, weil ich selbständig arbeite. Die geforderten Unterlagen vom Amt existieren nicht (die wollen allen ernstes Arbeitsverträge für selbständige Tätigkeiten), wenn ich sie nicht beibringe, hat man mir schriftlich versichert, dass man mein Einkommen so hoch einschätzen würde, das man von einer Bedürftigkeit nicht mehr ausgehen kann. Es ist leider nicht so hoch.
Zudem will man – zum ersten Mal seit sieben Jahren – meine Kontoauszüge sehen. Da habe ich kein Problem mit – aber die zuständige Mitarbeiterin meldet sich persönlich nicht mehr, ich lande immer bei einer Telefonstelle in Aachen. Die Frist läuft bis zum 1.2.2014 … d.h. unter normalen Umständen könnte ich die Miete nicht bezahlen.
Nun – das werden jetzt einige sehr knappe Monate werden. Das Jobcenter bestraft meine Kinder, weil ich trotz Hartz IV arbeiten gehe – wäre ich nicht so sparsam (und hätte ich nicht die Tantiemen der letzten Jahre einfach so auf dem Konto liegen) müßte ich jetzt mit Obdachlosigkeit rechnen. Nicht weil ich faul bin – ich trinke auch nicht, rauche nicht, habe keinen Fernsehempfang, gelte ja auch hochoffiziell als „vermittlungunfähig“, sondern weil ich Kinder habe, weil ich – ohne echten Gewinn zu haben – unter Schmerzen als Therapeut arbeite (und da trotzdem seit sieben Jahren einen guten Job mache) und weil ich nebenbei mit Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft ein erfolgreiches Nachdenkmagazin aufgebaut habe, das beständig mehr Leser anzieht.
Das Motivation und Kraft für eine solche kreative Arbeit wie hier vor Ort unter diesem Druck und dieser Belagerung irgendwann ausbleiben, wird man verstehen können.
Das versetzt mich aber in die komfortable Lage, endlich mal Klartext reden zu können – auch wenn sich jetzt viele Leser angeekelt abwenden, weil der „Eifelphilosoph“ in Wirklichkeit auch nur ein „Hartzer“ war. Nun brauche ich keine Rücksicht mehr zu nehmen (und kann den zu erwartetenden Hohn, den Spott und die Verachtung locker an mir abprallen lassen) und kann als Zeuge auftreten – zudem als qualifizierter Zeuge, der auch über Ausbildungen im Themenbereich „Motivation“ verfügt und vor dem Hintergrund sagt: was hier in diesem Sozialstaat läuft, ist eine gezielte Massenvernichtung von Arbeitskraft und Leistungsbereichtschaft.
Wenn ich die Methoden des Jobcenters bei der Motivation meiner Mitarbeiter eingesetzt hätte, hätte ich „innere Kündigungen“ in Serie produziert … und meinen beachtlichen Erfolgsprämien sehr geschadet. Vernichtet wird nicht nur die Restarbeitskraft der Leistungsempfänger (vernichtet oder weit unter Wert verramscht), sondern auch die Leistungsbereitschaft und psychische Empfindlichkeit von Millionen von Kindern – auch von denen, die sich am Gymnasium durchbeißen. Das Vertrauen in „Staat“ und „Gesellschaft“ wird mit enormen finanziellem Aufwand (immerhin: 5 Milliarden Euro Mehrkosten durch Hartz IV – laut SPD ein „voller Erfolg“) bis ins Mark zerrüttet … wegen offensichtlicher Dämlichkeit und Unfähigkeit des Gesetzgebers.
Der wirtschaftliche Schaden, der durch die „innere Kündigung“ in Betrieben stattfindet, wird auf 100 Milliarden Euro geschätzt. Ich weiß, dass er höher ist, will hier aber keine schmutzige Wäsche waschen.
Der gesellschaftliche Schaden, der durch die innere Kündigung der Bürger (Grund für alles nachlassende Engagement in Vereinen, Familie, Nachbarschaft und politischer Arbeit inklusive Wahl) entsteht, wird in die Billionen gehen und im kompletten Zusammenbruch der Versorgungsstrukturen enden … doch kann es noch ein paar Jahre (oder auch nur Tage) dauern, bis die Rechnung präsentiert wird.
So lange schaufeln sich diejenigen, die die Möglichkeit dazu haben, die Taschen voll, frei nach dem Motto „die Ratten verlassen das sinkende Schiff“. Die wissen nämlich alle, welche Konsequenzen es hat, wenn das Volk innerlich kündigt: der Kahn fährt irgendwann vor einen Eisberg, der die Leistungsfähigkeit der zerrütteten Gemeinschaft überfordert … da will man früh genug ein finanzielles Rettungsboot unter sich wissen.
Ich persönlich finde es gut, dass mir das Schicksal die Möglichkeit eingeräumt hat, diesen Prozess nicht nur vom Elfenbeinturm des Akademikers aus zu beobachten, nicht nur als wohlsituierter Zuhörer am Autoradio erleben zu können, sondern ganz unten, Seite an Seite mit jenen Menschen, die nicht das Potenzial haben, sich den Widrigkeiten erfolgreich widersetzen zu können … ich bin sozusagen „live“ dabei – jenseits jeglicher Distanz.
Und so kann ich deutlich sagen: ja – hier wird Leben vernichtet – auf ganz vielen Ebenen. Hier werden Menschen zerstört, Leistungsbereitschaft, Wissen und berufliches Können verramscht und Existenzen dauerhaft geschädigt.
Ich hoffe dass dieses kleine Zeugnis nun seine Runde macht – auch durch die Medien, die Parteien und Sozialverbände … denn es ist eine Lüge, dass Leistungsträger nie in Hartz IV landen. Ich kenne einige – nur können die sich nicht den Luxus erlauben, „sich hinter einer Krankheit zu verstecken“. Kein Unternehmen lebt ewig – und mit vierzig ist Schluß mit Anschaffen in der Drückerkolonne.
Was die Gesellschaft von uns erwartet, hat der „Spiegel“ mal offen am Beispiel eines führenden Mitarbeiters von Mercedes (vernichtet durch „Umstrukturierung“) beschrieben: Selbstmord wird erwartet. Die Wirtschaftsoffiziere sollen den Weg des Samurai gehen, wenn sie entsorgt werden. Uns sieht man nämlich enorm ungern … wir stören den Mythos des Arbeitslosen.
Und das ist letztlich, was heutzutage alle Versicherungen von ihren Beitragszahlern erwarten: Abtreten im Leistungsfalle. Leistungen schaden den Renditen, wenn es keine billligen Arbeitsleistungen sind.
Falls nun dieser Aufsatz von einem verantwortlichen Politiker gelesen wird, noch eine Erfahrung mit dem „Bildungspaket“. Beantragt hatte ich es im Juni 2006, weil die Versetzung akut gefährdet war. Auch wenn dahinter andere Gründe steckten und es nie eine reale Chance gab, meine Kinder vor den Folgen ihres Makels zu schützen, hatte ich Leistungen aus dem Bildungpaket beantragt. Die kamen dann – nachdem es mehrere wechselnde Zuständigkeiten gab – Mitte November. Meine Kinder waren schon nicht mehr auf der Schule, weshalb ich den dreissigseitigen Bescheid ungelesen abheftete. Zwei Wochen später erhielt ich einen Bescheid über die Streichung der nie erbrachten Leistungen mangels meiner Mitarbeit – ich hatte die nicht vorhandenen Rechnungen nicht eingereicht.
Für diesen Vorgang war Zeit genug da – und Geld auch. Wird ja extra jemand von meinen Steuergeldern dafür bezahlt, mir solche Bescheide zu schicken. Nun – vielleicht habe ich die momentanen Unregelmäßigkeiten einfach nur der Tatsache zu verdanken, dass ich einen etwas strengeren Brief zu diesem Vorgang geschrieben haben – ich kann aber Schlamperei bei der Arbeit immer noch nicht ausstehen – auch nicht auf Kosten der Steuerzahler.
Auf meinem Konto liegen auch noch die Tantiemen von 2012: drei unterschiedliche Mitarbeiter haben mir unterschiedliche Aussagen zu der Verrechnung gemacht, letztlich sollte ich halt warten, bis ich eine Rechnung bekäme – den Mitarbeitern möchte ich gerne danken. Ohne sie könnte ich jetzt die Miete nicht bezahlen – so hoch ist meine Rente nicht. Das können wir dann auch bei den anstehenden Gerichtsverhandlungen klären- da möchte ich dann auch wissen, wie ich ohne PC Texte im Internet veröffentlichen soll … ja, das war auch gefordert.
Wie Hartz IV aber bei den Mitarbeitern ankommt, kann ich sagen – die Person, die ich jetzt zitiere, arbeitet nicht mehr beim Amt.
„Natürlich hoffen wir, das Verwandte und Freunde was zu dem Geld dazu geben – da beten wir geradezu für. Davon kann doch keiner ordentlich leben!“.
Erfuhr ich während eines Begleitbesuches … die ich aber jetzt schon viele Jahre lang nicht mehr mache. Die Leute hier vor Ort arbeiten ordentlich im Rahmen ihrer Vorgaben, Begleitbesuche führen hier zur zu vermehrtem Streß, von dem beide Seiten keinen Vorteil haben … was ich den Arbeitslosenaktivisten auch mal ins Gebetbuch schreiben möchte.
PS: für die Leser und Schreiber des „Nachrichtenspiegel“
Das war nun noch mein versprochener Beitrag. Ja – ich war auch nur ein „Hartzer“. Erstaunlich, was die so können, nicht wahr? Tut mir leid, dass ich Euch so einem Makel ausgesetzt habe … aber das ist ja auch ein Grund, weshalb ich gehen muss. War schlimm, immer so tun zu müssen, als gehöre man zu den Menschen mit Lebensberechtigungsschein durch Arbeitgeber – für ehrliche Menschen ist das eine Qual. Zudem ist der Gemeinschaftscharakter unserer Arbeit gescheitert – stellt Euch mal vor, was wäre, wenn hier dauernd (ja – dauernd) Leute auftauchen, denen wir freundlich Obdach geben und die sich dafür dadurch bedanken, dass sie permanent an der Technik oder den Fotos herummäkeln. Als bezahlter Verkaufsleiter kann ich so etwas ab – als verfolgter Sonderling wird einem das schnell zuviel. Ich habe keinerlei masochistische Tendenzen. Ich habe als Regionalleiter der Pharmaindustrie schon Ärzte ´rausgeschmissen, die sich so gegen meine Leute benommen haben … und sehe keinen Grund, weshalb ich das bei meiner Person in ehrenamtlichen Rahmen auf einmal toll finden soll. Mobbing ist Scheiße – immer und überall … und wir können das hier momentan nur mit großem Aufwand unter Kontrolle halten. Weder Werner noch ich haben dazu Lust, dass war nicht der Sinn dieses Webprojektes.
Vielen Dank für die Rückmeldungen zu meinem Abschied. Sie haben mich sehr angerührt. Ich hätte nicht gedacht, das meine kleinen Worte Menschen so viel Halt geben. Es war nie beabsichtigt, das so ein großes Fass daraus wird – immerhin sitze ich seit 2006 morgens nur deshalb am Rechner, weil mein Rücken sich an die aufrechte Haltung gewöhnen muss. Unterlasse ich diese Schonphase, werden die Schmerzen Mitte des Tages unterträglich – und ich kann keine Hausarbeit mehr machen. Das ist doof – möchten die Lehrer doch, dass ich meinen Kindern am Nachmittag ihren Unterrichtsstoff erkäre – das nennt man „Hausaufgaben“. Und wenn ich schon hier sitze … dann kann ich auch schnell was niederschreiben. Immerhin geht mir dauernd etwas durch den Kopf. Ich muss nur jetzt meine Energie etwas mehr ins eigene Leben stecken, kann zusätzlichen Streß überhaupt nicht mehr gebrauchen – sonst sitze ich wirklich irgendwann noch unter der Brücke. Nichts gegen die Bescheidenheit eines Diogenes … aber hier ist kalte Eifel und nicht warmer Sonnenstrand in Griechenland. Ein Jahr halte ich die Verweigerung von Leistungen durch … vielleicht auch länger. Langfristig wartet vielleicht auch noch ein Erbe auf mich, es besteht also kein Anlaß, sich große Sorgen um mich zu machen. Macht Euch mehr Sorgen um Euer Land – auch ihr mit dem tollen Gehalt. Hier schreibt einer, der 2003 noch zum OBERSTEN PROZENT der Einkommensbezieher gehörte. Laßt Euch nicht einreden, Hartz IV wäre nur für für Leute, die das verdient haben. Wer Hartz IV wirklich verdient hätte, braucht es nicht: die beziehen „Boni“ und „Diäten“. Ich kann Euch nur raten: stoppt die Vernichtungsmaschine, bevor sie Euch erreicht. Und bekommt bitte erst Kinder, wenn ihr eine Million Euro Eigenkapital für sie übrig habt – alles andere ist für heranwachsende Seelen in diesem sterbenden Land eine elendige Qual.
Mit besten Wünschen: Reiner August Dammann, ergebenst: Euer Eifelphilosoph