Feuilleton

Die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten.

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Dienstag, 24.12.2013. Eifel. Liebe Mitbürger. Jedes Jahr ist es Tradition, dass der Bundespräsident ein paar nachdenkliche Worte zu Ihnen spricht. Dies freut besonders, wenn man weiß, dass der Sprechende ein Pfarrer ist, also ein durch die Metaphysik zur Menschlichkeit verpflichteter Mann. Dieses Jahr wollte ich ein paar Worte zur Syrienkrise verlieren. Der Spiegel hat sie veröffentlich:

„Die Flüchtlinge, die zu uns kommen, kommen nicht mit der Erwartung, hier in ein gemachtes Bett zu fallen. Sie wollen Verfolgung und Armut entfliehen, und sie wollen Sinn in einem erfüllten Leben finden“

Doch während ich diese Worte sprach, erinnerte ich mich: das gilt auch für viele Menschen in unserem Land. Das kann für jeden gelten, der als Kunde unsere Jobcenter aufruft, um der Verfolgung und der Armut zu entfliehen, in die er durch Wirtschaft und Politik gelangt ist. Er er findet dort kein gemachtes Bett vor, sondern Verfolgung, Entwürdigung und mangelnden Respekt vor seiner Lebensarbeitsleistung.

Lassen Sie mich weiter aus einem anderen Artikel aus diesem führenden deutschen Nachrichtenmagazin zitieren:

Das deutsche Jobwunder geht an vielen Menschen vorbei. Laut dem neuen Datenreport sind mehr Menschen von Armut bedroht als 2007. Das habe gravierende Folgen, sagen die Statistiker. So sei die Lebenserwartung von Geringverdienern deutlich niedriger.

Die Armut wächst in unserem Land. Anders jedoch als in anderen Ländern kommt diese Armut nicht als Naturgewalt infolge von Klimaveränderungen, Missernten oder als Folge eines Bürgerkrieges über uns, sondern als gezielter Akt von Politik, Medien und Wirtschaft, die einträchtig wie nie zuvor an einem Strang zogen und Millionen von Menschen zu einem frühen Tod verurteilt haben.

Das sind Sätze, die einem nicht leicht über die Lippen kommen – und doch sind sie wahr.

Lassen Sie mich noch ein drittes Mal den Spiegel zitieren, um ihnen die Dimensionen unseres Problem aufzuzeigen:

Nichts ist gut in Deutschland. So lässt sich der Armutsbericht 2013 zusammenfassen, den der Paritätische Gesamtverband am Donnerstagvormittag in Berlin vorgelegt hat. Noch im März dieses Jahres hieß es in einer Analyse der Bundesregierung die Verarmung sei gestoppt, die Ungleichheit in der Einkommensverteilung werde wieder geringer. Der jetzt vorgelegte „Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland 2013“ kommt zum gegenteiligen Ergebnis: Die Armut ist demnach auf einem Rekordhoch, das Land sozial und regional tief zerrissen.

Wir haben ein Rekordhoch an Armut in diesem Land – und ein Rekordhoch an Regierungslügen. Sicher – unsere Armut läßt sich nicht mit der Armut Syriens oder des Sudans vergleichen, das höre ich selbst auch nur zu oft. Aber Syrien oder der Sudan haben auch nicht unser Preisniveau, das beständig zum Wohle einiger weniger erhöht wird und immer weniger Menschen Luft zum Leben läßt, sie haben auch nicht unsere Geschichte, unserne Reichtum, unsere Wirtschaftskraft – oder unsere Verfassung.

Auch der Staat beteiligt sich – trotz regelmäßiger Meldungen über sprudelnde Steuereinnahmen – an der Hatz auf das Geld der Bürger. Allen anderslautenden Meldungen zum Trotz wird der  Bürger die schon mehrfach abbezahlten Autobahnen erneut bezahlen müssen, habe ich im Focus gelesen. Eine Ungleichbehandlung der Bürger ist auch nach EU-Recht schwer durchzusetzen.

Das weiß auch die Regierung. Sie weiß, dass Armut anfängt, auch in Deutschland Menschenleben zu kosten. Sie weiß, dass niemand die Renten zahlen kann, für die die Mehrheit der Bundesbürger jetzt fleißig einzahlt: es gibt in Zukunft schlichtweg zu wenig Menschen, die noch Renten erwirtschaften können – und zu wenig Geld, das noch verteilt werden kann. Das ist auch der Grund für die gesellschaftliche Schieflage. Wer kann, rafft so viel Geld zusammen wie nur möglich. Nicht umsonst gehören alle unsere Parlamentarier – unabhängig von jeder Partei – zu den bestverdienenden Menschen in Deutschland, inzwischen weit besser gestellt als vergleichbare Kollegen in der Wirtschaft. „Selbst für das Alter vorsorgen“ ist eine Botschaft, deren Notwendigkeit sie schon lange erkannt haben.

Veröffentlicht wurde das erst, als die Bürger kaum noch Ressourcen hatten, für ihr eigenes Alter vorzusorgen: allein schon ihr Alltag begann, sie finanziell zu überfordern.

Es dürfte niemanden überraschen, das die Armen sich angesichts dieser Zustände aus der Politik verabschieden, die eine Politik von Reichen für Reiche geworden ist, eine Politik, die jede Forderung nach Linderung der Armut als bodenlose Unverschämtheit begreift, während sie selbst immer ungenierter und luxuriöser auf Kosten anderer lebt. Der Spiegel hat eine Studie zu diesem Trend veröffentlicht, redet in unverhohlener Verachtung von „sozial schwachen Millieus“ und verurteilt sie so dazu, als asoziale Randgruppe verachtet zu werden, während das eigentliche Problem darin liegt, dass für sie kein Geld mehr übrig ist: kein Lohn für die Arbeitenden, keine Fürsorge für die Kranken, kein Mitleid für die Verlierer des Lebens, die es allein schon geben muß, damit sich weniger arme gut fühlen.

Es sollte ein Ruck durch Deutschland gehen, ein anderes Verteilungssystem muss her, unser ganzes Wirtschaftssystem sollte dringend überarbeitet werden, doch wir erleben erbärmliche soziale – und damit meine ich menschliche – Zustände: das Staatsschiff läuft auf ein Riff zu, Kapitän und Matrosen flüchten sich in die prall mit Vorräten gefüllten Rettungsboote, während die Passagiere unter Deck auf niedrigstem Niveau unterhalten werden: schrill, laut und möglichst geistlos.

Das Ergebnis dieser Form der Unterhaltung? Münchenkotzt.de zeigt es im Detail: ein Volk, das sich berauscht, bis es erbricht – die unangenehme Seite des Münchener Oktoberfestes kann als Spiegelbild unserer ganzen Gesellschaft gelten.

Weihnachten 2013 fragt man sich: was ist nur aus diesem Land geworden, das einst die Vorzeigedemokratie der westlichen Welt war? Sollen wir glauben, dass das demokratische Denken wirklich nur mit Waffengewalt von den Siegermächten ins Land getragen wurde und mit derem Abzug auch wieder langsam verschwindet?

Sehe ich in die Schulklassen der Gegenwart, so graust es mich. Die Welt berichtet gerade über eine:

Die Hamburger Grundschullehrerin Dagmar B. ist entrüstet über das Verhalten ihrer 24 Schüler. Sie seien fast ausnahmslos respektlos, rülpsten, pöbelten lautstark herum, würden mit Fäkalausdrücken um sich werfen und handgreiflich werden.

„Kinder kommen bereits um 8 Uhr früh gut gefüllt mit einer Stunde Super RTL, gewalttätigen und blutrünstigen Gameboy-Spielen und einem beachtlichen Blutzuckerspiegel in die Schule“, beschreibt die Pädagogin die Situation. „Sie springen mit erhobenen Fäusten wie Ninjakämpfer in die Klasse, semmeln erst mal drei Mitschüler über den Haufen und merken es nicht einmal.“

Erstklässler. Kleine, reizende Geschöpfe, fantasievoll, kreativ, lebenslustig, kontaktfreudig, mitfühlend und emotionsstark – alles Eigenschaften, die die Schule ihnen abtrainieren will, um sie für die Wirtschaft gefügig zu machen. Das dies später zu merkwürdigen Folgen führt, wissen wir schon. Treten sie schon in der ersten Klasse auf, ist dies ein äußerst bedenkliches Zeichen. Diese Menschen sind es, die die Hauptlast unseres verantwortungslosen Wirtschaftens tragen werden, sie werden die Entscheidungen treffen,  wie mit den Alten in diesem Land umgegangen werden soll, wir alle werden von diesen Entscheidungen abhängig sein.

Mir graust davor.

Darum möchte ich Ihnen als Bundespräsident zu dieser weihnachtlichen Zeit zurufen: haltet ein! Noch hat die Titanic den Eisberg nicht gerammt – auch wenn Politik und Wirtschaft sich so gebärden, als stünde ihnen das Wasser schon bis zum Hals.

Dringend wie nichts anderes braucht dieses Land eine Überarbeitung seiner Wirtschaftsform, so dass man mit Arbeit wieder ordentliche Renditen erwirtschaften kann. Dringend braucht es eine Reform der politischen Verhältnisse, damit wieder Sachverstand und selbstlose Menschenliebe in die Politik einkehrt anstatt Parteienfilz und Selbstbereicherungswahn. Dringend brauchen wir mehr Arme in der Politik, aber auch Schauspieler, Künstler, Philosophen, Bäcker, Maurer, Musiker, Leiharbeiter, Automechaniker, Erzieherinnen und Hausfrauen: Menschen, die etwas vom Leben verstehen und nicht nur deshalb Minister geworden sind, weil sie sich im innerparteilichen Konkurrenzkampf durch besondere Hinterlist und Verschlagenheit hervorgetan haben.

Dieses Land braucht anstatt einer dunklen, vernichtenden und qualvollen Evolution eine helle, schöpferische und lustvolle Revolution, die die Bürger selbst gestalten müssen. Es kann nicht angehen, dass zwei Millionen Parteimitglieder allein für die Personalauswahl einer Regierung von 80 Millionen Menschen zuständig sind. Sechzehn Jahre treuer Parteidienst qualifizieren in Wirklichkeit zu gar nichts, beweisen nur, wie groß der Wille zur Macht ist – und wie gering die Selbstachtung.

Das sieht unsere Verfassung auch gar nicht vor. Sie verlangt einen Abgeordneten, der souveräner Vertreter seines Wahlkreises ist und sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt, doch die Parteien unterlaufen dieses Gebot geschickt. Ich zitiere einmal aus dem Koalitionsvertrag der rot-grünen Regierung von 1998:

Im Bundestag und in allen von ihnen beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.

Das war das Ende des souveränen Abgeordneten, die Geschicke des Landes wurden von nun an von einer kleinen Hand voll Parteisoldaten bestimmt, die sich bis ganz nach oben gedient haben.

Der Rechtswissenschaftler Hans Kelsen beschrieb 1920 die Rekrutierungsmethoden der Monarchie mit folgenden Worten:

Wer die Methoden kennt, nach denen in bürokratisch-autokratischen Monarchien etwa die leitenden Stellen in der Exekutive, vor allem die Ministerposten, erworben werden, der kann nicht umhin festzustellen, dass hier leicht das Prinzip der umgekehrten Auslese maßgebend sein kann. Es hat gewiss einen tieferen Sinn, dass man von einem „sich hinaufdienen“ spricht. Nicht, wer am besten herrschen, sondern wer am besten Dienen, um nicht zu sagen dienern kann, erreicht das Ziel. Und es ist psychologisch bestimmt begreiflich, dass der geborene Herrscher nur Diener um sich sehen will, nur Diener brauchen zu können glaubt.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger – mit dieser Frage möchte ich sie nun in den weihnachtlichen Feiertagen allein lassen: wem dienen unsere Staatsdiener? All jene, die jetzt in der großen Koalition Amt und Würden haben, haben sich emporgedient in ihrer Partei, haben das Dienern zu ihrem Beruf, zu ihrem Lebenssinn gemacht. Wer ist aber nun der geheime Monarch, der so an der Armut der Bürger verdient, der Arbeitslosigkeit massiv durch Massenentlassungen fördert und die so entlassenen Menschen von staatlichen Organen verfolgen läßt, als hätten sie eine Straftat begangen?

Welcher dunkle Prinz hat den Sohn Gottes – dessen Geburt wir heute sinnbildlich feiern – von seinem Thron verdrängt und so Werte in das Land einsickern lassen, die eine christliche Gesellschaft niemals tolerieren darf?

Es sind unangenehme Fragen angesichts der prall gefüllten Gabentische, die heute immer weniger vorweisen können.

Aber es sind Fragen, die wichtig sind – Fragen, die über Leben und Tod entscheiden werden.

Bald auch über Ihren … wenn wir den Kurs nicht schnellstens ändern.

Aber … ich denke, das wissen Sie selbst am Besten.

 

(Ps: die Zitate stammen aus Das System, von Arnim, Droemersche Verlagsanstalt 2001, Seite 271 und 273).

Geschrieben von Eifelphilosoph für den Herrn Gauck am 24.12.2013. Darf morgen gerne ohne Namensnennung vorgelesen und ausgestrahlt werden.

 

 

 

 



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