Donnerstag, 4.7.2013. Eifel. Krankheitsbedingt kann ich immer noch nicht lange sitzen. Da werden viele aufatmen „gut, da schreibt er dann nicht so viel!“. Das werden wir sehen. Ich weiß nie, wie lange ein Aufsatz wird, wenn ich mich an den Bildschirm setze. Er ist dann abgeschlossen, wenn alle notwendigen und zielführenden Gedanken integriert sind – und das wird in unserer komplexen Welt täglich schwieriger. Kaum jemand kann noch erklären, was „Derivate“ sind, deren Volumen aber das zwanzigfache des Weltbruttosozialproduktes ausmachen. Die Reichen wissen das: deshalb wollen sie noch ganz viel mehr Geld – am Ende der künstlich aufgeblasenen Tauschmittelflut wird ein absoluter Megacrash stehen, der den Wert unsere Barschaft auf einen winzigen Bruchteil reduziert. Tödlich für die, die jetzt schon arm sind.
Oder die USA: fünfzig Jahre lang Freunde, jetzt auf einmal wieder Feindesland: das kann man nicht in 144 Zeichen erklären. Die Machtstrukturen sind aufgrund der Steuerung gesellschaftlicher Prozesse durch unterschiedliche Netzwerke sehr kompliziert geworden: aristokratische Netzwerke sind wesentlich schwieriger zu beschreiben als eine Monarchie, die linear von oben nach unten durchregiert.
Oder die Ursachen für den spürbaren Umbau Deutschlands in etwas dunkles, anderes: das wäre mit herkömmlichen Methoden schlichtweg nicht prognostizierbar gewesen – jedenfalls nicht, wenn man nicht gleichzeitig die Wirkung der Netzwerke des Washington Consensus beschreibt. Zudem muss man in Deutschland immer noch besonders aufpassen: schnell ist man Verschwörungstheoretiker, weil man sich weigert, alles mit der rosa Brille der Goldfasane im Bundestag zu betrachten. Hier bestimmt die Regierung, was Wahrheit ist – und die meisten Medien folgen ihr im Gleichschritt, ohne sich etwas dabei zu denken.
Die Reaktion der Bevölkerung darauf? Mit Vollgas in die Spaßgesellschaft! Beim Spiegel fand ich letztens eine Hitliste der am meisten diskutierten Blog-Artikel.
888 Menschen meldeten sich um Thema Ökonomenstreit
1176 zum Thema des aktuellen Lieblingsbuches
2102 zu Spekulationen über Fußballergebnisse
10001 zur Lieblings CD der Woche
17167 Kommentare aber – die absolute Nr. 1 – zum Thema: was singen Sie unter der Dusche.
Und das in Deutschlands führenden Polit-Magazin – worüber die anderen reden, kann ich mir kaum ausmalen. Wahrscheinlich haben sie kein Geld für Dusche, CD oder Bücher.
Vor diesem Hintergrund ist es einfach mal Zeit, DANKE zu sagen.
Ja, ein großes DANKE.
Vor drei Jahren haben wir nämlich angefangen mit dem Experiment Nachrichtenspiegel: Graswurzeljournalismus auf der Basis dessen, was rechtlich und ohne große Investitionen möglich ist.
Das waren bislang 3599 Beiträge mit 8303 genehmigten Kommentaren, die oft von lobenswert hoher Qualität waren. Ja – hier wird zwar moderiert, aber wir haben erstaunlich wenig Aufschläge von Idioten hier.
Letzten Monat hatten wir 120 000 monatliche Seitenzugriffe – ein neuer, kleiner Rekord.
Was hat sich bei uns in den letzten Jahren geändert?
Nun – wir sind von einem Nachrichtenmagazin zu einem Nachdenkmagazin geworden, weil uns schnell klar geworden ist, dass wir im Nachrichtengeschäft ohne Geld nicht mitspielen können. Aber nachdenken – das können wir noch.
Meine Texte sind noch länger geworden – man hatte mir früher schon gesagt, dass niemand im Internet solche Elaborate lesen will – noch überhaupt gedanklich verarbeiten kann.
Ich freue mich zu sehen, dass es da draußen wohl doch noch Menschen mit messbarer Gehirnaktivität gibt.
Und ich freue mich, mitgewirkt zu haben, einen Ort des Denkens, der beschaulichen Bildbetrachtung und des sozialen Engagements mitgeschaffen zu haben.
Das ging nur mit Lesern … und denen jetzt mal ein großes DANKE.
Bevor ich schmerzbedingt den Platz räumen muss, noch ein Dank an die Crew vom Nachrichtenspiegel – besonders an den Regenbogenbieger, von dessen unglaublicher Arbeit man hier an der Oberfläche fast kaum etwas sieht. Aber auch den anderen sei gedankt: Frank Ullrich, der sich zum sozialen Gewissen der Nation entwickelt (eine Nation, die ein Eldorado von selbstverliebten Spaßvögeln geworden ist, die dringend ein Gewissen brauchen) oder Tagesbild, der kaum merkt, wie viel Freude und Nachdenklichkeit seine Bilder vermitteln.
So, jetzt aber genug der Sentimentalitäten zum Jahrestag – mein Limit an Bildschirmarbeit für heute ist erreicht – leider.
Man wird halt nicht jünger, nicht wahr?