Politik

Wahl in NRW: die verlotterte Demokratie, die Piratenpartei und die käufliche Politik in Deutschland

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Freitag, 16.3.2012. Eifel. So, jetzt haben wir den Salat – wir müssen wieder zur Wahl. Die Berufspolitiker stehen einmal wieder hilflos vor den Ergebnissen ihrer eigenen Unfähigkeit und gegen die Verantwortung für die Tatsache, das sie ihren Job nicht können, an den Wähler ab. Worüber ich rede? Na, über Nordrhein-Westfalen und unser Eifelwahllokal. In  unserem kleinen Dorf können wir nämlich nicht wählen. Früher konnten wir nur nicht einkaufen, weil rundum die kleinen Versorger geschlossen haben – sie kamen gegen die Konzerne nicht an. „Inhabergeführter Einzelhandel“ hat halt wie der Rest der Bevölkerung weder Geld für Lobbyismus – noch Zeit, die Gesetze zu seinen Gunsten zu beeinflussen und ist mangels kreativer Einladungen zu Fernreisen und Spaßevents auch bei der berufspolitischen Kaste eher unbeliebt … oder völlig unbekannt. Neu bei uns ist aber, das die Gemeinde aus Gründen des Überlebens das alte Häuschen verkauft hat, in dem sich das Wahllokal befand. Wie der Rest der Republik haben wir aktuell die Demokratie dem Markt geopfert, um Straßen, Verwaltung und das Überleben jener sichern zu können, deren Arbeitskraft nicht mehr genug Rendite für die Goldman-Sachs-Ansprüche bringt. Was sollen wir also jetzt machen – und vor allem: wen sollten wir wählen?

Nun – wir könnten einen Kaiser ausrufen, einen Kaiser, der uns in die Unabhängigkeit führt. Immerhin – wir haben enorme Wasserreserven. Wenn es stimmt, das Wasser das Öl der Zukunft wird, dann werden wir alle Wasserscheichs. Und mal ehrlich: kann ein Kaiser schlimmer sein als eine Landesregierung in NRW, die sich erst fett die Diäten auf das Butterbrot schmiert aber dann keinen bescheidenen Haushalt hinbekommt? Wäre vielleicht mal gut gewesen, sich nicht erst selbst zu bereichern und dann so zu tun, als wäre der Geldmangel aus dem Himmel gefallen. Nun, das Plädoyer für ein Kaiserhaus überlasse ich lieber dem deutschen Adel – wie ich am Rande mitbekommen haben, haben die sich in der Wulff-Affäre auch schon diesbezüglich zu Wort gemeldet. Andererseits … haben wir ja gerade eigentlich schon einen Staat mit Einheitspartei und Wahlkaiserin – warum das nicht wieder offen leben?

Einheitspartei? Klar – mit eindeutigem Wahlprogramm. Gegen das Volk, gegen die Zukunft, gegen Mitbestimmung, Sozialstaat und Demokratie aber für Diäten, Nebenverdienste, Vetternwirtschaft, Beraterpöstchen, wachsende Staatsverschuldung, Rettung des arbeitsfreien Luxuseinkommens für Zinsfürsten und totale Kontrolle des Wahlviehs. Bezahlt wird das durch Banken und von ihnen vorfinanzierte Konzerne, die infolge jahrzehntelanger Konzentration eine staatsgefährdende Größe erreicht haben, weil sie selber größer als die meisten Staaten sind. Allein die deutsche Bank soll inzwischen über 2800 Firmen unter ihre Kontrolle haben – damit steckt sie viele Länder einfach in die Tasche und könnte sich bequem eine Mehrheit in der UNO kaufen – für Bananenpflicht zum Frühstück, Krawattenzwang in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Aberkennung der Menschenrechte für über 40-jährige: wo Mehrheiten käuflich werden, ist jeder Wahnsinn realisierbar … und sei es auch nur der zunehmende Aufkauf der Realwirtschaft durch die Finanzwirtschaft, eine Strömung, die aktuell zu steigenden Aktienkursen dank Billiggeld vom Steuerzahler führt.

 

Worunter Deutschland (und der Rest der kapitalistischen Welt) leidet, ist eine totale Verlotterung. Eine Verlotterung der Arbeitsmoral, eine Verlotterung der Verantwortungsethik, eine Verlotterung der sozialen Kultur – und aktuell eine „Verlotterung der Sitten“: der wirtschaftliche Schaden, der dem Land durch Korruption in Deutschland entsteht, wird aktuell auf 250 Milliarden geschätzt – aber darüber sollte man wohl eigentlich nicht mehr reden,  siehe Welt:

Altbundespräsident Horst Köhler hat den Umgang der Medien mit Politikern scharf kritisiert. „Wir haben heute in den Medien eine Sparte, die vom leichtfertigen Verdacht und der entehrenden Unterstellung lebt“, sagte Köhler in einer Rede beim „Wittenberger Gespräch“ am Mittwochabend.

„Früher hatten die Medien vor allem Spezialisten für das genaue Verständnis, für das Lesen und Verstehen auch zwischen den Zeilen. Heuet haben sie immer mehr Spezialisten für das bewusste Missverstehen und die ehrenrührige Schnoddrigkeit.“

Ich hatte zuerst an Arbeitslosen- Griechen- und Islamistenhatz gedacht, als ich das las, merkte dann aber schnell, das er den Tatbestand der Majestätsbeleidigung wieder ins Bewußtsein der Öffentlichkeit bringen wollte – ansonsten dachte ich, der meint direkt mich persönlich: angesichts der wuchernden Unfähigkeit, der exorbitanten Lügengebilde und der schnoddrigen Arroganz, die die politische Kaste in den letzten Jahren produzierte, neige ich zu einer ehrenrührigen Perspektive, die Regierungs- Konzern- und Parteienpropaganda ganz bewußt missversteht – ich hatte aber nicht damit gerechnet, das das dem Köhler auffällt.

250 Milliarden Schaden durch Korruption – würde man dies verhindern, wäre ein Hartz IV-Regelsatz für Kinder von 20 Euro am Tag denkbar – anstatt nur 2,67 für Essen und Trinken. Aber unsere Kinder hungern gerne für die „Diäten“ der Abgeordneten und die Gehälter und Spesenkonten der Lobbyisten, wir gehen auch gerne dreimal die Woche wählen, bis die Berufspolitiker ein Ergebnis haben, das ihnen oder ihren Pöstchen- bzw Auftraggebern passt.

Was wir dringend bräuchten, wäre eine politische Alternative, die sich gegen die verlotterten Selbstbedienungsparteien aufstellt – doch hier wird das politische Spektrum bewußt zurechgeschnitten: in der Saarlandwahl nächste Woche sind gerade mal drei „Kleinparteien“ zugelassen, der Rest muss draußen bleiben. Nein, die FDP gehört dort noch nicht zu den Kleinparteien.

Aber bald.

Eine politische Alternative, die sich gegen Parteien- Lobbyismus- und Vetternwirtschaftsfilz durchsetzt, ist aber in einer korrupten, verlotterten Republik undenkbar. Schauen wir uns doch mal eine der aktuellen Alternativen an: die Piratenpartei. Sie klärt uns gerade aktiv darüber auf, wie Politik in Deutschland funktioniert – aktuell am Beispiel des Vorsitzenden in NRW:

Vor kurzem erhielt ich durch „Presse-Konsortium“ die Einladung, an einer nicht-öffentlichen Gesprächsrunde teilzunehmen, die aktuelle Standpunkte der Piratenpartei erklären soll. Zunächst habe ich diese Anfrage abgelehnt, da mir verweigert wurde weitere Piraten zu diesem Treffen mitzubringen. Eine Liste der Teilnehmer sollten wir erst dann zu kommen, wenn ich schriftlich versichere diese Liste nicht zu veröffentlichen.

Dies ist sicherlich nicht der erste Kontakt mit Lobbyisten, aber bei weitem der krasseste. Kurz nach der Berlinwahl begann das große Wettrennen auf den Vorsitzenden dieser bis dato unglaublich unwichtigen Piratenpartei in NRW. Es begann mit einer Vertreterin der Ärzteschaft auf dem Stammtisch in Düsseldorf, zog sich über eine Springer-Repräsentantin bis hin zu einem Anruf eines Interessenvertreters der Zigarrenherstellenden Industrie.

Am bekanntesten dürfte hier das Beispiel des Bayer-Sprechers zu sein, der mich zu Canapes in die Konzernzentrale einlud. (Zur Info: dieses Treffen habe ich nicht wahrgenommen)

So beeinflusst man Politik. So steuert man SPD, CDU, CSU, FDP, Grüne und JEDE andere Partei, die über die fünf-Prozent-Hürde kommt. Es fängt ganz klein an – und endet mit einem Vorstandsposten nach Ablauf der Amtszeit, Wohlverhalten vorausgesetzt.

Leider ändert der Vorsitzende der Piratenpartei in NRW nach anfänglichem Widerstand seine Haltung, nicht mit Lobbyisten zu reden:

Lobbyismus an sich ist nichts schlechtes! Interessenvertretung ist eigentlich sogar das wichtigste, was Politik überhaupt ausmacht. Wir alle sind in die Politik gegangen, um persönliche Ziele zu erreichen oder um uns in einem bestimmten Bereich politisch zu verwirklichen. Gespräche mit den Vertretern der Industrie sind dabei nur die logische Konsequenz, um herauszufinden, was verschiedene gesellschaftliche Gruppen wollen.

Blöd nur, das viele gesellschaftliche Gruppen weder Zeit noch Geld für Interessenvertreter haben noch den Vorsitzenden der Piratenpartei NRW zu Kaffee und Kuchen einladen können – dafür braucht man schon ganz viel Überfluss in der Kasse, den man letztendlich auf vielen Umwegen aus der Staatskasse genommen hat. Viele können sich noch nicht mal Kaffee und Kuchen für sich selbst leisten. Man sollte schon aufhorchen, wenn Menschen in die Politik gehen, um „persönliche Ziele zu erreichen“, erst recht gilt es, das „Stop“-Schild aufzustellen, wenn gesellschaftliche Gruppen auf krummen Wegen zu Einfluss kommen wollen – es gibt nämlich für Zigarrenhersteller, Ärzte, Unternehmer, Banker und Konzernchefs einen ganz klar definierten Ort, wo sie ihre politischen Wünsche äußern können: die Wahlkabine.

Alles andere sollte der Souverän des Landes  sofort als „versuchte Korruption“ unter Strafe stellen – es sei denn, unsere Berufspolitiker nehmen in Zukunft auch Einladungen von Arbeitslosen, Ausländern, Alleinerziehenden, Rentern und Eifeldörfern an, die ihr Wahllokal verkaufen mussten, damit die Gemeinde der Pleite entkommt. Wünschenswert wäre auch, das sie Einladungen von Griechen in Griechenland annehmen, um sich vor Ort von der Wirkung ihrer „Rettungspolitik“ zu überzeugen – aber da gibt es schon lange keine Canapes mehr, sondern nur noch das, was der nächstgelegene Mülleimer so hergibt.

Wir wissen genau, wo die Verlotterung der Gesellschaft herkommt – auf die Frage, wem die EU gehört, gibt es schon lange eine Antwort, wie  hier in einer Arbeit der Uni Münster:

Richard Sennett hat vor kurzem in einer grundsätzlichen Kritik gesagt, der moderne Kapitalismus sei in seiner Grundtendenz antidemokratisch. Er führe zu einer weichen Spielart des Faschismus (soft fascism). In modern organisierten Unternehmen werde die Macht von einer immer kleiner werdenden Zahl von Spitzenmanagern ausgeübt, das gleiche gelte für die politische Sphäre, wo die Entscheidungsmacht einigen wenigen Spitzenpolitikern vorbehalten sei. Diese Tendenz zur Zentralisierung von Macht und zur extremen Verkürzung der Zeithorizonte im Unternehmensmanagement sei die unmittelbare Folge der totalen Freisetzung riesiger Kräfte des Finanzkapitals nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Abkommens in den siebziger Jahren. Politische Macht sei abgewandert in die Finanzsphäre und in die Hände einer neuen Managerklasse, die sehr genau weiß, wie man mit den neuen Strukturen umgeht und sich in zumeist informellen Netzwerken organisiert. Sennett fährt fort: „Diese Netze geben Managern heute die Freiheit, Dinge zu tun, die innerhalb der offiziellen Strukturen eines Unternehmens völlig unmöglich wären. Macht entzieht sich in dieser Weise ganz einfach der Wahrnehmung und wird unsichtbar.“ Wirkliche Macht hängt vom Platz ab, den man innerhalb eines weltweiten Netzwerkes einer immer kleiner werdenden Gruppe von Spitzenmanagern und Spitzenpolitikern einnimmt. Die Bürger, resümiert Sennett, „haben in der politischen Sphäre keinen Platz mehr. Nur eine äußerst schmale Schicht der Gesellschaft hat überhaupt noch Zugang zu ihr.

Gerade dieser Freisetzung riesiger Kräfte des Finanzkapitals haben wir es zu verdanken, das inzwischen ganze Divisionen von Lobbyisten durch die Welt eilen können um jede noch so kleine politische Bewegung im Land mit Worten und Talern zuzukleistern, noch bevor sie überhaupt reale politische Macht bekommt.

Insofern – könnten wir eigentlich alle unsere Wahllokale verkaufen, von dem Erlös ließen sich dann die ständig steigenden Diäten und andere Ehrensolde finanzieren.

Dankbar dürfen wir aber dem Vorsitzenden der Piratenpartei in NRW seien, der uns einen kurzen Einblick in die deutsche Realpolitik des 21. Jahrhunderts erlaubt hat. Mal schauen, wie oft er noch eingeladen wird, wenn er die Versuche, ihn jetzt schon in informelle Netzwerke einzuflechten, veröffentlicht. Ich denke aber – für diesen Akt der Aufklärung hat er schon die eine oder andere Stimme verdient.

Schade, das wir hier mangels Wahllokal nicht mehr wählen gehen können.

Schade, das wir nur noch wählen dürfen, wer denn aktuell von Lobbyisten eingeladen werden soll.

Schade, das wir das alles bezahlen müssen.

Was wären wir reich, wenn das nicht so wäre.

Paradiesisch reich.

 

 

 

PS: die Schreibfehler im Welt-Zitat und im Zitat des Vorsitzenden der Piraten in NRW sind nicht von mir, die anderen schon.

PS2: nicht vergessen: am 4.Juli 2012 ist nationaler Kaufnix-Tag – jener Tag, an dem wir den Lobbyisten zeigen können, woher das Geld für ihre Canapes wirklich kommt.

 

 



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