Politik

Davos: wie die Hilflosigkeit der Leistungselite uns den Urlaub und die Demokratie kostet

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Freitag, 27.1.2012. Eifel. Die Welt ist gerade wieder wunderbar in Ordnung. Endlich. Der Dax steigt und man hat herausgefunden, warum es der Weltwirtschaft so schlecht geht: der Deutsche ist einfach zu faul. Der Europäer auch – siehe Handelsblatt:

„Die Europäer arbeiten weniger Stunden pro Woche, weniger Wochen pro Jahr und weniger Jahre ihres Lebens als Arbeitnehmer in anderen Regionen der Welt“

Und weiter heißt es da:

Der Weltbank-Studie zufolge müsste ein großer Teil der europäischen Länder die Arbeitszeiten erhöhen und es den jungen Menschen erleichtern, einen Arbeitsplatz zu finden. Zudem müssten die europäischen Regierungen die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter „produktiver“ einsetzen und angesichts der Alterung der Gesellschaft mehr Zuwanderer aus dem Ausland anwerben.

Das freut uns Europäer, das die Ursache des Übels endlich gefunden ist. Wir müssen nicht nur bis 70 arbeiten – wir sollten auch einfach unseren Urlaub streichen – schon geht es der Wirtschaft wieder gut. Da hätten wir auch früher drauf kommen können – aber doch gut, das es Experten gibt, die uns da helfen.

Schade nur, das die gleichen Experten auf einen anderen Mangel hinweisen. Fehlten kürzlich noch weltweit 200 Millionen Arbeitsplätze, so sind es mitlerweile ganz schnell 600 Millionen geworden. Wenn die, die noch Arbeit haben, jetzt soviel mehr arbeiten sollen – was wird aus den 600 Millionen, die überhaupt erstmal nur ein ganz klein wenig Arbeit wollen?

Nun – die werden wohl sterben müssen, wenn es nach dem Willen der Weltbank geht. „Sozialverträgliches Frühableben“. Damit die, die noch einen Arbeitsplatz haben, noch mehr arbeiten dürfen – für das gleiche Geld. Und denen, die Arbeit haben, soll es gehen wie jenen, die in Detroit für die ganz großen Konzerne gearbeitet haben:

Für die Arbeiter in Detroit – einer Stadt in der nicht nur Chrysler, sondern auch Ford und General Motors ihren Sitz haben und in ehemals großen Werken produzierten, hatte das verheerende Auswirkungen. Viele Werke sind heute geschlossen und stehen als Industrieruinen in der Stadt. Dort wo noch gearbeitet wird, betragen die Löhne nur noch einen Bruchteil von dem, was in den siebziger und achtziger Jahren gezahlt wurde. Urlaub, Pausen und Arbeitssicherheit wurden radikal abgebaut. Viele Arbeiter mussten ihr Haus verkaufen, sind restlos verschuldet und versuchen sich durch Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten. Die meisten Arbeiterviertel sind völlig herunter gekommen und verwahrlost.

Das würde die Weltbank jetzt gerne in Sindelfingen sehen – und in ganz Europa. Man sollte sich an diese Entwicklungen erinnern, um zu verstehen, was gerade in Davos geschieht:

Das prominenteste Risikoszenario des aktuellen WEF-Risikoreports trägt nämlich den wohlig-gruseligen Titel „Seeds of Dystopia“. Darin ist vom möglichen Fall von „einst reichen Ländern“ – vulgo Westeuropa – die Rede, die angesichts demografischer Risiken und erdrückender Schulden schlicht in „Rechtlosigkeit und Unruhe“ versinken könnten. WEF-Präsident Klaus Schwab spricht von einem „globalen Burn-out-Syndrom“. Er meint damit wohl die handelnden Politiker – die Verfasser des Reports könnte er aber gleich mit einbeziehen.

Und weiter:

Für Europa würde der Niedergang – politisch, wirtschaftlich, kulturell, sozial – keine Katharsis auslösen, an deren Schlusspunkt ein frischer, erstarkter Kontinent steht, sondern ein ausgelaugter, ausgebluteter Flecken Erde, der für Generationen im Schatten anderer, dynamischerer Regionen stehen würde.

Kaum zu glauben, oder? Das verhandeln unsere Experten gerade in Davos – aber so deutlich sagt uns das keiner. Das uns eine Zukunft blüht, in der die meisten von uns keinen Urlaub mehr haben (oder aber den „Dauerurlaub“ der Arbeitslosigkeit – der nur nicht so lustig ist wie der auf Mallorca), bis 79 arbeiten müssen – und zwar 60 Stunden die Woche – wir aber trotzdem unser Haus verkaufen müssen, weil die Abgaben zu groß geworden sind … das sagt uns keiner. Dafür haben wir dann auf dem Arbeitsmarkt auch viel mehr Konkurrenz aus dem Ausland – die Geschichte der USA zeigt, wie schwierig es ist, in heterogenen Gesellschaften erfolgreich Widerstand gegen den Sozialabbau auf die Beine zu stellen.

In Deutschland (bald wohl neuer Bundesstaat der USA) sind wir ja dank „rot-grün“ schon ganz vorne mit dabei:

Nach einer Studie der OECD ist in Deutschland die Ungleichheit in der Einkommensverteilung stärker gestiegen als in den meisten anderen Ländern. Die obersten zehn Prozent verdienten 2008 hierzulande durchschnittlich rund achtmal so viel wie das untere Zehntel. In den USA sind die Unterschiede noch krasser.

Und in Detroit sieht man, wo das endet. Oder in Flint, Michigan. Ödland, wo vorher eine Stadt war. Japan begibt sich auch gerade auf diesen Weg:

 „Diesmal erleben wir eine industrielle Aushöhlung an der Wurzel“, warnt Toshiyuki Shiga, verantwortlich für das operative Geschäft von Nissan und Präsident der Vereinigung japanischer Automobilhersteller. „Nie wieder werden wir den Bau einer Fabrik für Digitalkameras in Japan sehen“, sagt Zenji Miura, Präsident des traditionsreichen Kameraherstellers Pentax.

Wenn man in Japan noch nicht mal mehr Kameras bauen kann – wovon wollen die Leute da unten eigentlich in Zukunft leben?

Erstaunlich, wie offen in Davos das Ende des Systems diskutiert wird, das die Weltbank jetzt in Europa noch forciert sehen möchte – siehe Welt:

Den Ton gab gleich der Moderator vor: Stimmt es, dass der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts nicht gerecht wird, wollte „Time“-Chef Jim Frederick vom Publikum wissen. Fast die Hälfte der vielleicht 400 Zuschauer hob die Hände.

Die Hälfte der Teilnehmer in Davos hält den Kapitalismus für gescheitert – dabei treffen sich dort doch seine „Leistungsträger“.

Der Kapitalismus des 20. Jahrhunderts sei für das 21. Jahrhundert nicht mehr geeignet, sagte Burrow. Die Ungleichheiten seien heute in der Welt so groß wie vor der Krise der 1930er Jahre. Hunderte Millionen Menschen seien ohne Arbeitsplatz. Der Kapitalismus habe es verpasst, sichere Jobs zu schaffen und den Reichtum gleichmäßig zu verteilen.

So eine Gewerkschafterin. Und sie erhält Unterstützung aus dem Management:

Von „unerfüllten Versprechen“ des Kapitalismus sprach Ben Verwaayen, der Vorstandschef des Telekommunikationskonzern Alcatel-Lucent. „Vielleicht ist die Philosophie, der Kapitalismus verantwortlich“ für die aktuellen Probleme der Weltwirtschaft, so der Niederländer, „vielleicht aber auch nicht die Philosophie selbst, sondern die Art und Weise, wie wir sie umsetzen“.

Es ist erschreckend, was sich dort abspielt. Man denkt, man wäre bei einer Sitzung der Partei der LINKEN in Bergisch-Gladbach – dabei ist es das Weltwirtschaftsforum, das sich dort durch komplette Ratlosigkeit auszeichnet, während am Horizont düsterste Wolken erscheinen, siehe Handelsblatt:

 Meinungsforscher schätzen, dass etwa ein Drittel der Deutschen nicht mehr daran glaubt, dass die Demokratie die wichtigsten Probleme lösen könne. Aber auch Manager tragen dazu bei, wenn sie hinter vorgehaltener Hand von „effizienten Entscheidungsprozessen in China“ schwärmen und über Stuttgart 21 maulen. 

Wo bleibt da der Verfassungsschutz? Er beobachtet die Kapitalismuskritiker im Volk – die viel weniger drastisch argumentieren als die Führer der Weltwirtschaftselite.

Der Kapitalismus – wie wir jene konzerndominierte Wirtschaftsstruktur nennen, die eigentlich den Namen Korporatokratie verdient – vernichtet Volkswirtschaften, Demokratien und Lebensläufe von Milliarden von Menschen, die weit davon entfernt sind, Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung leben zu können. Die einen verwirklichen die Vorstellungen ihres Jobcentermitarbeiters (der selbst kurz vor seiner Entlassung steht), die anderen die ihres Arbeitgebers (der selbst dicht vor der Pleite steht). Fremdbestimmung in asozialer Abhängigkeit ist unser Motto geworden.

Und während in Davos noch diskutiert wird, schreitet man weltweit weiter voran, die Macht die Korporatokratie zu festigen – das Gekrähe in Davos interessiert schon längst keinen mehr in einer Welt, in der Konzerne ein Heer von inzwischen einer Million Söldner anwerben und so jeden Staat der Welt in ein neues Lybien, einen neuen Irak, ein neues Jugoslawien verwandeln können. ACTA – der nächste Schritt zur Geißelung der Menschheit – wird skrupellos weiter vorangetrieben, obwohl dadurch Millionen von armen Menschen ohne Medikamente sein werden – mit Folgen für die Gesundheit der Menschen. So reduzieren wir aber auch ganz schnell die Anzahl der weltweit benötigten Arbeitsplätze – Konzerne wissen: Tote essen nicht, heizen nicht und wohnen auch günstig.

Ganz nebenbei legt ACTA auch grundlegend die Informations- und Meinungsfreiheit zu den Akten, weshalb wir uns in Zukunft Diskussionen wie in Davos oder Artikel wie diesen hier ersparen können.

Wunderbar – nicht war?

So löst das, was wir Kapitalismus nennen, wirklich alle Probleme und ich fange an, selbst an die wunderbare Macht der unsichtbaren Hand des Marktes zu glauben.

Ich weiß auch, was die Revolutionäre von Morgen auf ihren Fahnen stehen haben:

Nicht Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, sondern RENTE URLAUB WEIHNACHTSGELD.

Leider wird man mit diesen bald der Vergangenheit angehörenen Ansprüchen keine großartigen Allianzen schmieden können – noch wird man damit für Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechte streiten können.

Für unsere Enkel hießen die Losungen dann: Essen, Trinken, Obdach – Losungen für das Überleben in einem „ausgebluteten Kontinent“. Wäre doch mal Zeit, zu schauen, wo denn das ganze Blut hingegangen ist, oder?

 

 

 

 



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