Politik

Bundesparteitag Piratenpartei Offenbach – letzte Chance für die Menschheit?

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Samstag, 3.12.2011. Eifel. Autor: „ganz dicke Virusgrippe“ – laut Arzt. Die erste seit … vielen vielen Jahren. War schon stolz auf meinen Lebenswandel. Vielleicht – haben aber auch ein paar Naturwissenschaftler wieder nur ein total neues, geiles Grippemodell entwickelt, das sie gerade ausprobieren. Wie jede Grippe bringt auch diese einen gestandenen Mann an den Rand des Todes, den man mit offenen Armen begrüßen würde, wenn er nur den Matsch aus dem Kopf entfernt. An schreiben – war nicht zu denken … jedenfalls solange nicht, bis der Parteitag der Piraten in Offenbach ins Visier rückte. Es ist kein Geheimnis, das ich die Piratenpartei vor zwei Jahren als braunes U-Boot angesehen habe – der Fall schlägt bis heute Wellen:

Ein anderes Ausschlussverfahren endete bereits mit einer Schlappe für den Bundesvorstand: Der Pirat Bodo Thiesen soll wiederholt auf Mailing-Listen der Partei Holocaust-Leugner zitiert haben – sein Landesverband verteidigte ihn im Namen der Meinungsfreiheit. Am Donnerstag entschied das Schiedsgericht in Rheinland-Pfalz, dass Thiesen Pirat bleiben darf. Seine Äußerungen würden der Partei keinen Schaden zufügen, hieß es. Der Bundesvorstand will Berufung einlegen. 

Bodo Thiesen soll – so wurde mir versichert – persönlich ein netter Mensch sein, der sich – für Nerds nicht selten – in rechtsradikalen Netzen verfangen hat, ohne es zu merken. Nun – andere braune Flecken der Partei haben gezeigt, das dies kein Einzelfall war, sondern Methode. Heute, nachdem die Morde des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ öffentlich geworden sind (und nicht nur dem Verfassungsschutz und anderen Nachrichtendiensten bekannt), darf man wohl vorsichtig den Verdacht äußern, das hier Strategie hintersteckt: die Unterwanderung liberaler Parteien durch NS-Kräfte war schon früher mal Thema, weil sie „weder rechts noch links“ sein wollen, eignen sie sich sehr gut dafür, rechte und linke Extreme lange Zeit im Sinne der Meinungsfreiheit zu decken.

Man ist ja „gut“ (oder „piratig“), das sollte reichen.

Wie „gut“ man ist, möchte die Piratenpartei nun in Offenbach beweisen – mit interessanten Themen … nochmal Spiegel:

An der Spitze des Top-40-Rankings steht ein Antrag für die Legalisierung von Drogen, gefolgt von einem Antrag über die Trennung von Staat und Religion. Andere wollen die Facebook-Seite der Partei löschen, Firmenspenden verbieten, Nahverkehr gratis anbieten oder die Zeitumstellung abschaffen.

Das sind Forderungen, die einen natürlich völlig umhauen. Zu Zeiten, in der es wieder eine reale Kriegsgefahr mit Russland gibt (ja, das ist eine Überraschung, oder? Russland hat Syrien zugesichert, sie militärisch vor Natointerventionen zu schützen, um ein zweites Libyen zu verhindern. Hält sich die Nato nicht dran, rollt der Russenpanzer bald wieder durch Polen und Berlin), haben wir natürlich keine anderen Probleme als uns hemmungslos zukoksen zu dürfen. Immerhin – der Kokainersatzstoff Ritalin wird regelmässig in viele Kinderhirne gepumpt, warum sollten da die Erwachsenen immer noch krumme Wege gehen müssen, um an ihr Speed zu kommen?

Trennung von Staat und Religion ist natürlich besonders wichtig, erst recht, nachdem der Papst die Deutschen mit Moral ängstigt und aus Abscheu vor der Welt sogar auf die Kirchensteuer verzichten will. Man will ja die Geschäfte nicht durch Anstand und Ethik gefährden.

Ob die Partei eine Facebookseite braucht, interessiert wohl wirklich niemanden … aber mit dem Verbot von Firmenspenden trifft man den Kern des Systems. Wovon sollen denn die Parteien ihre Funktionäre fürs Nichts- und Wichtigtun bezahlen, wenn nicht die Firmen – anstatt den Überschuss des Wirtschaftens als Preisminderung an die Kunden weiterzugeben, damit alle was davon haben – die Gelder großzügig herüberwachsen lassen … für eine kleine Gegenleistung, einen kleinen, unbedeutenden Gefallen, wohlgemerkt – wie zum Beispiel die Deregulierung der Arbeits- und Finanzmärkte.

Gegen dieses System, das nicht nur Deutschland sondern ganz Europa und die USA fest im Griff hat (mit katastrophalen Folgen für die Wirtschaft selbst, für die Bürger des Landes und die Zivilisation selbst) hilft nur noch die Notbremse, sonst rast es mit Schmackes vor die Wand.

In solchen wirtschaftlich kranken Zeiten den Nahverkehr gratis anzubieten, ist schon fast demokratische Pflicht – und könnte bei uns zu libyschen Verhältnissen führen.  Und hier wird es interessant – denn entgegen der Forderungen der Parteispitze und des neoliberalen Blocks in der Piratenpartei (das scheint ja fast schon Tradition zu werden in Deutschland: neoliberal ist man, sobald man im Vorstand ist – egal ob rechts, links oder orange) offenbart uns das Handelsblatt unter dem Titel „Skurriles Programm“ weitere Programmanträge, die sehr nachdenklich machen können – und eigentlich überhaupt nicht skurril sind:

Nacktheit im öffentlichen Raum als Grundrecht für Menschen klingt sicherlich ungeheuerlich – und wäre mit Sicherheit nicht mein Top-Thema – aber es ist als rechtsphilosophischer Aspekt nicht von der Hand zu weisen. Skurril ist da nichts – die Werbung lebt immerhin täglich davon. Ist ja auch Basisoutfit fürs Paradies.

Die Besteuerung von Kapitalerträgen in Höhe von 65% ist sicher ein weiterer Antrag, der im Rahmen der volkswirtschaftlichen Notbremse einfach alternativlos ist. Das hat mit „rechts“ und „links“ im Jahre 2011 nichts mehr zu tun: eher mit Notwehr. Wenn der Fürst das Dorf ansteckt, werden wir doch wohl auch nicht das löschen verbieten wollen, weil man es als „links“ deuten könnte derweil es gegen die Taten des Fürsten gerichtet ist?

Die große Staatsverschuldung der Bundesrepublik hat ein Antragssteller als Problem erkannt und liefert gleich eine Lösung dafür mit, wie man den Schuldenberg wieder loswerden kann. Die Vermögenden sollen bezahlen. Mit einer einmaligen Vermögensabgabe von 20 Prozent sollte sich die Staatsverschuldung laut Antrag erledigt haben.

Das kann man so sehen – und ist ja auch nicht skurriler als die Solidaritätsabgabe Ost. Nur geben diesmal diejenigen, die viel zu viel haben und nicht die, die ohnehin jedes Jahr weniger haben. Mit Klassenkampf hat dies nichts zu tun – aber mit volkswirtschaftlicher Notbremse und praktischer Vernunft viel.

Arbeits- und Unterrichtszeiten müssten generell so gestaltet werden, dass die Menschen nicht gezwungen seien, gegen ihre „innere Uhr“ zu leben.

Das würde natürlich für Staat und Unternehmen viel Arbeit bedeuten … aber welches Recht gibt es eigentlich, Menschen absichtlich krank zu machen, in dem man sie mit Gewalt (oder der Androhung des Hungertodes bei Weigerung via Hartz IV) in Lebensrythmen zwängt, die ihrer Gesundheit nachhaltig schaden? Gut, in einer Welt, in der Menschen nur noch „Kosten auf zwei Beinen“ sind, mag man die Massenvernichtung von Lebenskraft gern billigend in Kauf nehmen … aber das muss einem als Wähler dann doch nicht gefallen.

Wahlrecht schon für Kinder – würde Eltern etwas für ihre Arbeit entlohnen und ihnen die politische Macht geben, die sie dank ihrer Arbeit schon lange verdient haben.

Letztendlich ist es aber ein ganz zentraler Programmpunkt, der zur Debatte steht  siehe Welt:

Das bedingungslose Grundeinkommen wird wahrscheinlich auch in Offenbach eine große Rolle spielen. Es gibt einen Antrag, wonach die Forderung ins Wahlprogramm für die Bundestagswahl aufgenommen werden soll. Zwar werden erst die Mitglieder vor Ort entscheiden, worüber letztlich debattiert und abgestimmt wird. Doch das sozial- und wirtschaftspolitische Reizthema umtreibt viele Piraten.

Der Bundesvorsitzende ist dagegen – das eint ihn mit den Bundesvorsitzenden aller anderen Parteien in Deutschland. Wo kämen wir denn auch hin, wenn man den Vorsitzenden die Peitsche aus der Hand nehmen würde, mit der sie seit Jahrzehnten den Bürger so schön knechten: die ständig steigende Abhängigkeit von Geld.

Das diese Abhängigkeit inzwischen einen Grad erreicht hat, in der die Gleichung GELD = LEBEN herrscht und so bei sinkendem Geldlevel direkt die Allgemeinen Menschenrechte angreift, wird von den gut versorgten Parteioberen gerne übersehen. Da sie von der Industrie aber fleissig umworben werden und ihre politischen Aktivitäten größtenteils nur noch als gelebte Bewerbungsunterlage verstehen, sollte man Verständnis für diese Blindheit haben. Auch hier findet man auf einmal … Weisheit bei den Piraten:

Zudem hört man aus Berliner Piratenkreisen, dass die Partei nur deshalb einen Bundesvorstand habe, weil man ihn laut Parteiengesetz haben müsse.

Das es Weise wäre, auf einen Vorstand zu verzichten, merkt gerade auch die SPD, die sich mit Forderungen nach höheren Steuern für Reiche und mehr Rente für Arme bei der Führung unbeliebt macht: die Spitzenverdiener der Partei sind nicht einverstanden mit höheren Steuern für Spitzenverdiener.

Verständlich.

Umso unerhörter ist das, was bei den Piraten gedacht wird, siehe Welt:

Nur mit dem Unterschied, dass die Piraten ein „Programm“ gar nicht so ernst nehmen, weil sie nicht in Themen, sondern in Verfahren denken. Basisdemokratisch digital soll es zugehen. Der Rest steht zur permanenten Debatte.

Das klingt so liberal, dass die hierzulande sogenannten Liberalen den Schreck schon längst in den Gliedern spüren. Und es klingt so basisdemokratisch, dass der gleiche Schreck, wenn auch auf höherem Niveau, ebenso ins grüne Parteigebein gefahren ist. Nicht ohne Grund.

Denn das Magnetische an der Piratenbewegung ist die Einladung zum freigeistigen Aufbruch ohne allen Ballast. Und ohne die Verpflichtung, für die Ideen anderer etwas zu zahlen.

Manchen gefällt das sehr – wie dem Altkommunarden Rainer Langhans:

Alt-68er Rainer Langhans gibt einen Teil seiner Dschungelcamp-Gage an die Piratenpartei weiter. Er habe große Sympathie für die chaotischen Elemente in der Partei.

Ob man das Geld angenommen hat, weiß ich nicht. Möglicherweise ist es ja von „links“?

Es ist kaum zu glauben – aber im Jahre 2011 hängt das Schicksal des ganzen Landes von einer einzigen kleinen chaotischen Partei ab.

„Bedingungsloses Grundeinkommen“ ist nichts weiter als die allerletzte Notbremse, die – zumindestens übergangsweise – ein ganzes Land vor der kompletten Ausplünderung und wirtschaftlichen Vernichtung bewahren kann. Da diese Notbremse aber die automatische Bereicherung der „Entscheider“ in Politik und Konzernwirtschaft ebenfalls ausbremst, wird sie aus dieser Ecke niemals gezogen werden – einer Kaste der „Elite“, die dem Volk Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Vertauenskrise, Energiekrise, Sozialkrise und ein paar kleine häßliche Kriege (an denen man aber auch gut verdienen konnte) gebracht hat, steht wohl aber auch nicht der Sinn nach einer gut laufenden Volkswirtschaft.

Die Piratenpartei Berlin – zusammen mit dem Grundeinkommensaktivisten Ralph Boes, der die Partei in Berlin unterstützt – hat sich hier deutlich positioniert:

Auf Landesebene gibt es in Berlin einen Beschluss vom Oktober 2010, der in Form eines Positionspapiers ein bedingungsloses Grundeinkommen fordert und dies aus den im Grundgesetz verankerten Menschenrechten ableitet.

Zu einem Bedingungslosen Grundeinkommen gibt es angesichts der momentanen politischen und wirtschaftlichen Katastrophen keine Alternative, wenn diese Gesellschaft noch eine Zukunft haben soll. Von gigantischen Kapitalerträgen in China, den USA und den Konzernkassen kann ich in Bottrop keine Schulwände streichen, in Köln keinen Straße pflastern und in Wismar keine Arbeitsplätze schaffen, noch wüßte ich, wie die steigende Gier nach leistungslosem Einkommen auf Halbgottniveau auf der einen Seite ohne Hungertote in den Dörfern Sachsen-Anhalts und den Straßen Gelsenkirchens befriedigt werden sollte.

Der Geldkreislauf ist ein geschlossenes System – für die Millionenhaufen müssen Millionen leiden.

Will man dieses Leiden nicht, sondern lieber ein Leben in einer lebendigen, offenen, freien Gesellschaft, die dem Individuum größtmöglichen Schutz (!) und damit auch größtmöglichste Entfaltungsmöglichkeiten (inklusive einer gestiegenen Risikobereitschaft) gibt, dann muß man die Prioritäten anders setzen: erst Geld für die Menschen, dann für den Haufen.

Wenn da einer auf zwanzig Haufen Kartoffeln sitzt, die bald verfaulen, und zwanzig andere hungernd in der Ecke sitzen und nichts anpflanzen können, dann ist es nicht „links“ zu sagen: „Gib´ mal was ab, damit Du auch in Zukunft wieder Haufen anhäufen kannst“.

Das ist dann nur vernünftig. Das können auch Rechte.

Wie das finanziert werden soll?

Das zu berechnen, darf man getrost den Experten überlassen. Niemand macht sich ja auch Gedanken darüber, wie wir in Zukunft die jährlich fälligen 100 Milliarden Euro für die Beamtenpensionen aufbringen sollen … oder die Billionen für die Eurorettung.

Das System ist am Ende. „Nehmt bloß nichts eurem Schröder weg!“ – kann in Zukunft kein Ansatz mehr sein – und je länger wir das alte System laufen lassen, um so schneller wird es unsere Volkswirtschaft ausbluten.

Insofern kann es wirklich sein, das der Parteitag einer kleinen, chaotischen, rechtstoleranten Partei die letzte Chance der freien, offenen Bürgergesellschaft im 21. Jahrhundert ist, während sich die SPD darum streitet, wie die Vermögen ihrer Chefs zu sichern sind.

Immerhin, eins muss man den Piraten zugute halten: sie singen auch mal in der U-Bahn. Scheinen bei Rentern aber – siehe Link – nicht gut anzukommen. Rentner mögen keinen Lärm.

Den Gegnern sei nur eins gesagt: unseren „Fortschritt“ haben wir der Tatsache zu verdanken, das wir dem Adel den Besitz weggenommen und ihm dem Mittelstand gegeben haben: die hatten einfach mehr Ideen, mehr Tatkraft und Erfindungsgeist als der dekadente Blaublutmob.

Wieviel „Fortschritt“ brachte uns eigentlich die Superklasse der Superreichen in den letzten zwanzig Jahren?

Die letzte bemannte Mondlandung ist ein halbes Jahrhundert her – wirkt schon wie die übliche zivilisatorische Stagnation aristokratischer Gesellschaftsformen, oder?

Und Dieter Bohlen werdet ihr doch jetzt wirklich nicht als Fortschritt ansehen wollen, oder?

 



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