Ich habe eine wunderschöne Wohnküche. Bunt, lebendig, mit Schafen und Obstbäumen vor dem Fenster – beides zum Greifen nah. In dieser Küche hängt – unaufdringlich in einem Erker – ein Brief. Er ist handgeschrieben, vom 26.1.1946, mittags. Er stammt von einem Ehepaar, das in den Nachkriegswirren meinen Vater aufgenommen hatte, der von seiner eigenen Mutter vor die Tür gesetzt worden war – das Essen war knapp. Dieses Ehepaar hatte meinen Vater wie einen Sohn behandelt und ihm viel Halt gegeben. Wenige Tag, nachdem sie diesen Brief geschrieben hatten, sind sie einfach verhungert. Mein Vater hatte den Brief nie erhalten, er war versehentlich an seine Mutter gesendet worden, die ihn nicht weitergeleitet hatte: es durfte keine Mutter neben ihr geben. Er starb vor ihr, mich hat der Brief durch meine Mutter erreicht, die den Nachlass ihrer Schwiegermutter nicht verwalten wollte. Der Brief vergilbte, schmucklose Brief (den ich wegen altdeutscher Schrift kaum lesen kann) hängt in meiner Wunderküche als Mahnung und Warnung, das der hässliche Hungertod jederzeit vor der Tür stehen kann – und das Menschen zu unglaublichen Gemeinheiten fähig sein können. Lese ich über Griechenland – oder Hartz IV – dann weiß ich, das die Warnungen und Mahnungen dieses Dokumentes der Zeitgeschichte hochaktuell sind.
Über Hartz IV gibt es jetzt einen spannenden Selbstversuch. Ein normaler, geistig gesunder Mitbürger hat mal versucht, von diesem Regelsatz ein normales, dem Niveau eines zivilisierten Industriestaates angemessenes Leben davon zu leben. Er ist gescheitert (wie nicht anders zu erwarten), hat aber interessante Bekanntschaften gemacht:
Nachhaltig bleibt ihm das Gespräch mit einer Frau in Erinnerung, die meinte, mit den Hartz IV Empfängern habe man so eine Art Sündenböcke geschaffen, die für jene, die gesellschaftlich besser gestellt sind, ein gutes Feindbild abgeben. Das eigne sich zudem als Drohkulisse, um Lohndumping durchzusetzen. „Früher drohten die Kirchen mit dem Fegefeuer, heute haben wir es vor der Tür“, zitierte Pantel die Frau.
Wer den Hartz-Hungertod stirbt, wird es schon verdient haben, oder? Das ist die bequeme Ansicht jener, die noch jung, gesund und in Arbeit sind. Warum mir da immer dreissigjährige Studienräte mit Hornbrille, Kaschmirpulli und Karottenhose in den Sinn kommen, die als Hobby eine Modelleisenbahn betreiben, weiß ich auch nicht.
Natürlich muss man sein Gewissen beruhigen, angesichts des Elends, das der Staat über seine Bürger bringt. Natürlich glaubt man den Lügengeschichten der Pressesprecher gern (und interessiert sich nicht dafür, das die ihre Geschichten womöglich auf ihren gemeinsamen Pressesprecherkonferenzen auch abstimmen – zum eigenen Vorteil): wer Hartz IV erhält, ist faul, gemein, hinterhältig, ein Untermensch wahrscheinlich – vielleicht sogar JUDE.
Früher wäre er mit Sicherheit auch JUDE gewesen – oder Sympathisant von Juden. Die heutige Wirklichkeit erfährt unser Mann im Selbstversuch:
So hörte er von einem ehemaligen Unternehmer, dass er über 30 Jahre anderen Arbeit und Brot gab und sich heute als Faulenzer beschimpfen lassen muss.
Vielleicht kommt mir deshalb der Studienrat in den Sinn, weil er als staatlich alimentierter Kostgänger niemals von der Vermarktung seiner Arbeitskraft leben muss und mit fünfzig Jahren in Frührente geht (wegen der Nerven), während der Normalbürger mit fünfzig Jahren bei der ARGE landet – nicht, weil er nichts mehr kann, sondern weil die geschlossene Front der Personalchefs Menschen schon ab vierzig nicht mehr als arbeitsfähig ansieht. Die könnten dann ja mal kaputt gehen, sind beliebt wie Gebrauchtwagen vom Libanesen nebenan.
Man muss neuerdings aufpassen, ob man solches Gesochse nicht auch in seiner Familie hat. Ist der Vater kein Beamter, droht Gefahr, denn: HARTZ-Schulden sind anders als Bankenschulen VERERBBAR.
Erben seien grundsätzlich verpflichtet, die dem Erblasser in den zehn Jahren vor dem Tod gewährten Sozialleistungen aus der Erbmasse zurückzuerstatten, befand das Gericht (Aktenzeichen: S 149 As 21300/08). Daher sei die Forderung des Job-Centers rechtens. Das Schonvermögen komme nur dem Betroffenen selbst zugute und nicht den Erben. Das teilt die Arbeitsgemeinschaft Erbrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) mit.
Das ist wirklich schon schlimmer als Fegefeuer – und vor allem: anders als die Höllenphantasien der Kirchenmänner ist es real.
Nun – mit Armut kann man leben. Viele Kirchenmänner leben freiwillig arm, weil sie die Welt und ihren schönen Schein als teuflische Versuchung verstehen. Da sie aktiv und offensiv mit ihrer Armut umgehen, sind sie für die Hartz-Hölle nicht mehr erreichbar. Nach dem letzten Weltkrieg waren viele Menschen arm – aber die Menschlichkeit an sich blühte in den Trümmern auf. Armut schweißt zusammen – und der Mensch an sich ist ein soziales Wesen.
Womit man jedoch nicht leben kann, ist die hemmungslose Ausbreitung eines bösen Geistes, eines Geistes, den man zurecht teuflisch nennen kann – manche Indianer Nordamerikas nennen ihn – ihrer Tradition entsprechend – den „Wendigo“ oder „Wertiko“ … sie waren mit die ersten, die mit ihm Bekanntschaft gemacht hatten.
Insofern haben es die Indianer und die Kirchenleute gut – sie verlieren nicht den Glauben an die Menschlichkeit und die Menschheit, wenn sie sehen, das hemmungslos ganze Volksschichten und ganze Völker der Vernichtung preisgegeben werden. Beide wissen auch – oder können es wissen – das es die finstersten Kräfte sind, die das Denken der Menschen je formuliert hat, die nun zu wirken beginnen. Sie halten es für böse Geister (Teufel und „böse Winde“), während wir es als Bestandteil der menschlichen Natur auffassen müssen – was unsere Meinung zum Thema „Mensch“ nachhaltig beeinflußt.
Es macht es aber auch gleichzeitig leichter, diese „Menschen“ der Vernichtung preiszugeben: wer KZ´s baut, gehört doch zweifellos von der Erdoberfläche getilgt, oder?
Da macht man sich dann auch keine Gedanken mehr über die Zusammenhänge von Arbeitslosigkeit und Tod – obwohl man die Zusammenhänge kennt, siehe Spiegel:
Britische Soziologen analysierten 2009 alle Wirtschaftskrisen, die zwischen 1970 und 2007 in 26 EU-Ländern aufgetreten waren. Das Ergebnis: Eine Steigerung der Arbeitslosigkeit erhöht die Suizid- und Mordraten. „Es besteht ein geradezu lineares Verhältnis zwischen der nationalen Suizidrate und dem Bruttoinlandsprodukt“, sagte auch der US-Soziologe Harvey Brenner 2009 dem „New York Magazine“.
In Griechenland ist die Suizidrate um 40% gestiegen.
Wenn ich um diese Zusammenhänge weiß … dann wissen das die EU-Politiker, die Banker und Anlagevernichter auch. Wenn sie um diese Zusammenhänge aber wissen und sie billigend in Kauf nehmen, dann … sind sie Mörder.
Massenmörder.
Hierzu eine Nachricht aus der Tagesschau:
Wenige Tage vor ihrem Urteil über die Spar- und Reformbemühungen Griechenland erhöht die Experten-Troika aus Internationalem Währungsfonds (IWF), EU-Kommission und Europäischer Zentralbank (EZB) den Druck auf das hochverschuldete Land.
„Es ist offensichtlich, dass das Programm nicht aufgeht, wenn die Behörden nicht den Weg nehmen, der viel strengere Strukturreformen bedeutet als die, die wir bisher gesehen haben“, sagte Poul Mathias Thomsen, der Leiter der IWF-Delegation in Athen, der „Welt am Sonntag“. Das Land gehe „zwei Schritte vor und einen zurück“.
Was hier mit vielen schönen Worten abstrakt beschrieben wird, heißt konkret: „Wir wollen mehr Leichen auf den Straßen Griechenlands sehen“ – jedenfalls heißt das so für jene, die die Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und Suizidrate kennen, für jene Menschen, die sich noch daran erinnern, das ARMUT auch heißen kann, das man versehentlich VERHUNGERT – oder an Krankheiten stirbt:
Zwischen 2007 und 2009 haben 14 Prozent mehr Griechen ihre Gesundheit als «schlecht» oder «sehr schlecht» beurteilt. Zudem hat sich die Zahl der hospitalisierten Griechen von 2009 bis 2010 um 24 Prozent gesteigert. Im ersten Halbjahr 2011 wurden acht Prozent mehr Menschen ins Spital eingeliefert als noch im Jahr davor.
Wieder muss ich an den deutschen Studienrat denken. Das Anfangsgehalt eines Lehrers in Griechenland beträgt … 575 Euro. In Deutschland bekommt er das Fünffache – und mehr. Dafür hat der Deutsche auch mehr Freizeit … in Griechenland gibt es Anwesenheitspflicht für Lehrer.
Man mag sich als deutscher Studienrat (verbeamtet, verheiratet, zwei Kinder) ruhig zurücklehnen, wenn man in den Nachrichten von den wirtschaftlichen Nöten der „Anderen“ erfährt … wobei sich nur diejenigen zurücklehnen können, die Informatik, Sport und Mathe oder Chemie und Physik unterrichten. Der Lehrkräfte für Geschichte, Soziologie und Wirtschaft können die Nachrichten noch verstehen.
100 Milliarden Euro brauchen unsere Banken momentan für den Fall, das wir den Griechen kein Geld mehr für die Zinszahlungen geben können. Sie werden das Geld dann auch bekommen – siehe Welt:
Sieben Mal betonte Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy am Sonntagabend im Bundeskanzleramt, mit Kanzlerin Angela Merkel „voll und ganz“ einig zu sein. Merkel selber war weniger auskunftswillig, betonte aber, Paris und Berlin seien „absolut entschlossen“, die Arbeitsfähigkeit der europäischen Banken sicherzustellen.
Und die Banken sind „absolut entschlossen“, dies hemmungslos auszunutzen – zumal sogar eine Änderung des EU-Vertrages in Aussicht gestellt wurde. Schon jetzt drohen sie zu „Dauerpatienten“ zu werden – siehe Handelsblatt. Da macht es schon mal Sinn, nach den Ursachen der Krisen zu schauen – siehe Freitag:
Die Situation könnte paradoxer kaum sein. Die imposanten Haushaltsdefizite nahezu aller EU-Staaten sind vor allem auch den groß angelegten Bankenrettungen während der Weltfinanzkrise 2008/09 zu verdanken.
Bei den Tätern hingegen herrscht Hochstimmung, wie die Mittelstandsnachrichten berichten:
Eine heute veröffentlichte Studie der eFinancialCareers zeigt, dass die Zahl der Wall Street Beschäftigten, die für dieses Jahr gleichbleibende oder steigenden Boni erwartet, immer noch enorm hoch ist: 62 Prozent der Befragten sagten, dass sie im Jahr 2011 einen gleich hohen oder höheren Bonus als 2010 bekommen werden. Der Optimismus ist ungebrochen – wenngleich die Euphorie nicht mehr ganz so groß zu sein scheint wie noch im Vorjahr. Da gingen noch 71 Prozent der Befragten davon aus, dass im nächsten Jahr ihre Bonusauszahlungen ansteigen werden bzw. gleich bleiben.
Mit soviel Geld ist natürlich auch die Motivation da, sich noch mehr krumme Geschäfte auszudenken, an deren Ende … der Hundertod für „Andere“ eintritt. Das man das in Deutschland akzeptiert, verdanken wir der gezielten Reklame für das „Hartz-IV-Untermenschenbild“. Da fällt es uns jetzt viel leichter, die krepierenden Griechen zu akzeptieren und den Blick von der Tatsache abzuwenden, das Athens Gegenwart Berlins Zukunft sein wird – mit allen Folgen für uns, die die Griechen jetzt durchleben.
Dank der Hartz-IV-Gesetzgebung hat der deutsche Staat auch die Möglichkeiten (und notwendigen Werkzeuge), dann umfassend auf Privatvermögen zuzugreifen … auch auf das des Studienrates, falls seine Kinder mal keine Anstellung bekommen oder seine Eltern mit der dann gekürzten Rente nicht auskommen. Ob er es dann schafft, das mit seinem gekürzten Lehrergehalt auszugleichen, wird fraglich sein.
Mit Informatik, Sport und Mathe als Ballast im Genick kann man allerdings nicht hinreichend verstehen, was Barroso gesagt hat – hier zitiert im Handelsblatt:
Die deutschen Steuerzahler forderte Barroso zur Solidarität mit hoch verschuldeten Euro-Staaten auf. Bisher habe Deutschland in der Euro-Krise kein Geld verloren, weil die Bundesrepublik Kredite und Garantien gewährt, aber keine direkten Zahlungen geleistet habe. Jetzt könne es sein, dass Deutschland als größte Volkswirtschaft Europas für andere Staaten einstehen müsse.
Barroso sagte, Deutschland habe am meisten vom Euro profitiert. Mögliche Belastungen seien am Ende gut für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. „Das ist verkraftbar im Vergleich zu dem, was uns blühen würde, wenn der Euro auseinanderbricht“, sagte er.
Das hört sich sehr sehr … sehr teuer an. Und wir sind jetzt schon hochverschuldet.
Darf ich mal einen Griechen zu dem Thema zitieren? Hier mal … Mikis Theodorakis. Er scheint die Täter zu kennen:
All das Gerede über die europäische Solidarität war nur eine Nebelwand, die dazu diente, die Tatsache zu verheimlichen, dass dies eindeutig eine amerikanische Initiative gewesen ist, mit dem Ziel, uns in einer weitreichende, künstliche finanzielle Krise zu stürzen, so dass unser Volk in Angst leben, ärmer werden, wertvolle Errungenschaften verlieren und schließlich das Knie beugen und einer Herrschaft durch Ausländer zustimmen würde. Aber warum dies alles? Welche Pläne sollen durchgeführt, welche Ziele erreicht werden?
Daher sollen wir als Volk abgeschafft werden und dies ist genau, was heute geschieht. Ich fordere die Ökonomen, Politiker und Analysten, auf, mir zu beweisen, dass ich falsch liege. Ich glaube, dass es keine andere plausible Erklärung gibt, als dass eine internationale Verschwörung, mit der Teilnahme von pro-amerikanischen Europäern wie Merkel, der Europäische Zentralbank und der internationalen reaktionären Presse, stattfindet, die sich im „großen Plan“ verschworen haben, eine freie Nation zu versklaven. Ich finde jedenfalls keine andere Erklärung.
Ich schon. Griechenland erlebt gerade, das es Hartz IV jetzt auch für Länder gibt – und wir Deutsche erleben, das wir die Erben Griechenlands sind.
Obwohl die Ära 1933 – 1945 eine schlimme Zeit für Deutschland war (und die Jahre danach ebenfalls), haben die Nürnberger Prozesse gezeigt, das man Unrecht nicht untätig dulden muss. „Occupy Wallstreet“ ist sicher ein erster und wichtiger Schritt – aber wir sollten uns jetzt schon Gedanken darüber machen, ob auch wir wie 1945 die Todesstrafe für alle jene aussprechen wollen, die an diesem bald größten Verbrechen der Menschheit mitgewirkt haben. Letztlich geht es nämlich wieder um die Massenvernichtung unwerten Lebens … nur will man jetzt auch das Geld für Gas und Lager sparen.
Die Langzeitarbeitslosen und Pleitegriechen sollen das gefälligst selbst regeln – dafür baut man ja den „Druck“ schließlich auf.
Oder … man streicht ihnen einfach die Regelsätze.
Immerhin brauchen die Banken ihre Boni.