Von Florian Hauschild
Soziale Realität ist nichts, was einfach so existiert. Soziale Realität hat ihren Ursprung in der Wahrnehmung der Menschen und letztendlich zu Handlung führt. Jeder Mensch nimmt die Welt zunächst auf eine andere Art und Weise wahr – abhängig von den eigenen Lebenserfahrungen und Informationen, die das Individuum in seinem Leben gemacht und verarbeitet hat.
Im sozialen Kontext führt diese Wahrnehmung beim Menschen zu individueller Handlung. Die aggregierten individuellen Handlungen sind soziale Realität.
Handlung kann durch Normen, Gesetze, Verordnungen und Regeln beeinflusst werden. All diese Institutionen begründen ihre Wirkungsmacht jedoch in letzter Instanz auf dem Glauben der Individuen an die Legitimität selbiger. Sprich: Wenn ich nicht an die Sinnhaftigkeit einer Regel glaube, folge ich ihr nicht. Der Regelgeber kann dann versuchen, dieses Nichtfolgen durch Androhung von Strafe zu unterbinden. Meist gelingt dies eine Weile – so lange bis eine kritische Masse an Individuen dies durchschaut und sich von Strafe oder durch Androhung von Gewalt nicht mehr sanktionieren lässt. Die Regel beginnt dann im gesamtgesellschaftlichen Kontext ihre Wirkungsmacht zu verlieren.
Eine weitere Möglichkeit der Handlungsbeeinflussung bietet gleichsam die Beeinflussung von dem, was der Handlung zu Grunde liegt: die Wahrnehmung.
Gelingt es Wahrnehmung im großen Umfang zu beeinflussen, bedarf es oft keiner explizit formulieren Regeln oder übertriebener Sanktionsmechanismen mehr, da derart manipulierte Individuen glauben, ihr Handeln sei per se vernünftig und richtig. Zahlreiche soziale Phänomene, die oft mit dem Wortbaustein „-ismus“ enden, lassen sich auf diese Weise verstehen: Nationalismus, Terrorismus, Fanatismus aber auch Totalitarismus und Diktatur.
Fragt man nun was Wahrnehmung in letzter Instanz bestimmt, so sind dies – vor allem in unserer schnelllebigen, informationsgefluteten und zu oft diskursfreien Zeit – sehr häufig einzelne Begriffe. Auch Begriffe, die wie in Teil 1 dieser Serie beschrieben, teilweise bewusst für Propaganda- und Manipulationszwecke konstruiert wurden.
Im Folgenden sollen nun weitere propagandistische Beispiele aus der aktuellen politischen Debatte aufgegriffen und dekonstruiert werden. Die Zusammenstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit.
Als wirkungsvolle Gegenmaßnahme gegen das Neusprech empfiehlt es sich, die Begriffe entweder nicht in der propagandistischen Verwendung zu reproduzieren, oder aber sie mit Anführungszeichen bzw. dem Vorschub „so genannt“ zu kennzeichnen. Erst durch eine bewusste Dekonstruktion der durch Herrschaftsinteressen missbrauchten Begrifflichkeiten kann es dem Individuum schließlich gelingen, sich dem Kantschen Leitsatz der Aufklärung anzunähern; Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!
Wissenschaft/ler bzw. Experte
Das Wort „Wissenschaft“ bezieht sich eigentlich auf den Sachverhalt „Wissen schaffen“. Wissen kann geschaffen werden, indem bereits vorhandene Erkenntnisse neu verknüpft und verbreitet werden. Information wird zu Wissen, wenn die am kommunikativen Prozess beteiligten Akteure eben jene Information für valide und verbreitungswürdig halten.
Wissen hat niemals eine „Quelle“, da jeder Akteur letztendlich nur eine Durchlaufstation der Information darstellt. Information kann einen Absender haben, Wissen nicht. Wissen ist per se frei und kann als Produkt gesamtgesellschaftlicher Interaktion von niemandem „besessen“, „veräußert“ oder „erworben“ werden.
Im heutigen Diskurs hat es sich durchgesetzt, den Begriff „Wissenschaft“ vor allem für die universitär-institutionalisierte Form der Informationsverbreitung zu gebrauchen. Ein „Wissenschaftler“ ist nach diesem Verständnis dann meist eine Person, die einen subkulturinternen „Titel“ oder „Grad“ vorweisen kann. Für Medienkonzerne tätige Lohnschreiber (s. Teil 1) ziehen solche Personen meist als Fürsprecher für teils sehr krude Thesen heran und titulieren diese Fürsprecher dann oft auch als „Experten“.
Innerhalb des Teilsystems der universitär-institutionalisierten Informationsverbreitung lässt sich häufig beobachten, dass die dort handelnden Akteure sehr stark an Teilnehmer von Kaffeekränzchen oder auch Lästerklubs erinnern. Denn meist zählt bei Auseinandersetzungen nicht der argumentative Kern einer Aussage, vielmehr wird im aktuellen Diskurs des universitären „Wissenschafts“systems oft nur noch analysiert woher eine Aussage kommt. Abhängig von ihrem Absender wird die Information dann in eine „Schublade“ oder auch „Schule“ eingeordnet und dann entweder diskreditiert oder hochgejubelt. Der Begriff „Informationssortierer“ würde besser beschreiben, wofür heute gemeinhin der Begriff „Wissenschaftler“ genutzt wird.
Unser Geld
Für Medienkonzerne tätige Lohnschreiber und andere Repräsentanten des gescheiterten neoliberalen Gesellschaftssystems benutzen bei finanzpolitischen und wirtschaftlichen Debatten häufig die Begrifflichkeit „Unser Geld“. Dieser Begriff lässt viele Menschen intuitiv glauben, dass das bestehende Geldsystem in irgendeiner Weise mit demokratischen Prinzipien in Verbindung stünde. Die ist jedoch nicht der Fall. Einfach ausgedrückt lässt sich sagen: Die mathematische Logik des bestehenden Geldsystems sowie die bestehende Logik der Geldschöpfung sorgen dafür, dass Konzentrationen im Geldsystem wie ein Magnet wirken: Dort wo viel ist, wird – schon allein durch die systemische Logik bedingt – immer mehr angezogen.
Es ist also in der bestehenden Geldordnung systemisch verankert, dass breite Bevölkerungsschichten sukzessive verarmen, während sich in den Händen einiger Weniger immer mehr ansammelt. Natürlich gibt es noch weitere systemische Faktoren, die diesen Prozess bedingen, das Geldsystem spielt dabei jedoch auch eine große Rolle. „Unser Geld“ könnte man zu einem Geldsystem sagen, dass einer dezentralen Geldschöpfungslogik folgt und eine andere Umlaufsicherung als die des Zinses aufweist.
Revolution
Unter einer Revolution wird für gemeinhin ein plötzlicher (meist auch gewaltsamer) Umsturz oder auch Wandel einer Gesellschaftsordnung verstanden. In der Werbesprache wird der Begriff „Revolution“ zudem für jede noch so unbedeutende Veränderung verwendet. Von der Revolution auf dem Mobilfunkmarkt bis hin zur Revolution für „ihr Haar“, revolutioniert sich eigentlich alles ständig. Zumindest wird dies so verlautet.
Möglicherweise hat dies auch den Effekt, dass wirkliche Revolutionen dann gar nicht mehr als solche wahrgenommen werden, da viele Menschen – hören sie den Begriff Revolution – irgendetwas zwischen brennenden Barrikaden und einem neuen Conditioner mit Veilchenduft erwarten.
Eine sehr anschauliche Definition des Revolutionsbegriffs formulierte Rudi Dutschke. Dutschke begreift Revolution nicht als etwas punktuelles, sondern eher als einen „langfristigen Prozess der Bewusstwerdung“; des Lernens und Lehrens. Ziel einer Revolution ist eine demokratische – sich selbst verwaltende Gesellschaft.
Ziel einer Revolution ist es nicht, alte Eliten durch neue Eliten auszutauschen, sondern eine grundlegende Veränderung herbeizuführen, wie es auch Heinz Sauren in seinem Essay „Revolutionäre Gedanken“ formuliert.
Demokratie
Der Begriff Demokratie beschreibt eine Gesellschaftsform, in der „das Volk“ herrscht. Es gibt unzählige Definitionen und Konzepte einer Demokratie. Die meisten, insbesondere die so genannten modernen Demokratiekonzepte, sind jedoch unzureichend und beschreiben oder bedingen eher eine Oligarchie: die Herrschaft der Wenigen.
Als einzig wirklich genuines Demokratie-Konzept, lässt sich heute die Deliberative Demokratie nach Jürgen Habermas bezeichnen. In einer deliberativen Demokratie werden Entscheidungen und Lösungen im offenen Diskurs entwickelt und setzen sich von alleine durch – sofern sie richtig sind.
Voraussetzung für ein Funktionieren der deliberativen Demokratie sind deshalb öffentliche Foren, eine Kommunikation des Diskurses unter den Gesellschaftsmitgliedern, sowie die Entmachtung von Personen, die im Diskurs entwickelte Lösungen blockieren.
Im gescheiterten neoliberalen Gesellschaftssystem wurde und wird der Begriff „Demokratie“ in der Regel für die in ihm verankerte oligarchische politische Ordnung verwendet. Politische Parteien sollten als Transmissionsriemen dienen und demokratische Entscheidungen herbeiführen. Da politische Parteien aber letztendlich auch nur Organisationen sind, folgen diese dem ehernen Gesetz der Oligarchie und entwickeln sich im Zeitverlauf per se zu undemokratischen Machtkartellen. Das Konzept der Parteiendemokratie war – sofern man das eherne Gesetz der Oligarchie anerkennt – von Beginn an zum Scheitern verurteilt.
Wachstum
Wachstum bedeutet „Zunahme von etwas“. Die Repräsentanten des gescheiterten neoliberalen Gesellschaftssystems ließen und lassen in ihren Presseerklärungen häufig verlauten, dass sie ihre „Arbeit“ dem Ziele des „Wachstums“ unterordnen. Fragt man sich was eigentlich wachsen soll ist die Antwort recht einfach: „Wohlstand“.
Fragt man sich wie die Repräsentanten des gescheiterten neoliberalen Gesellschaftssystems „Wohlstand“ messen ist die Antwort jedoch eher ernüchternd: Durch „Wachstum“ des BIP. Mit der Problematik des BIP als relevante Kennzahl beschäftigt sich auch Rudolf Hickel.
Das BIP beschreibt den Gesamtwert aller in einer Volkswirtschaft hergestellten Waren und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft hergestellt wurden und dem Endverbrauch dienen.
Dies kann also von Prostitution bis hin zu Tellerminen, Computern, Zugfahrten oder auch Tiernahrung zunächst einmal alles sein. Ereignet sich beispielsweise irgendwo ein Autounfall bei dem fünf Menschen sterben bedeutet dies Wachstum des BIP. Die am Unfall beteiligten Autos müssen ersetzt oder repariert werden, die Dienstleistung „Rettungsdienst“ wird in Anspruch genommen oder auch – natürlich besser für das „Wachstum“ – die Bestattungsbranche (Särge, Beerdigung, Traueranzeige in der Tageszeitung, Leichenschmaus etc. werden konsumiert). Das alles bedeutet „Wachstum“. Wachstum kann natürlich auch bedeuten, dass ein Biobauer heute mehr Kartoffeln anbaut und verkauft als gestern. Auch das ist „Wachstum“.
Oft sprachen und sprechen die Repräsentanten des gescheiterten neoliberalen Gesellschaftssystems von „Wachstumsimpulsen“. Der Herstellung gewisser Güter soll also auf die Sprünge geholfen werden. Da die Entscheider über Subventionen, Investitionen und anderer „Wachstumsimpulse“ aber in der Regel von Lobbyinteressen korrumpiert werden, findet „Wachstum“ – also die Zunahme von etwas – meist eher in Bereichen statt, die der Mehrheit der Gesellschaft keinen Nutzen bzw. Schaden bringen.
Propaganda in Deutschland – Kaleidoskop des Neusprechs (Teil 1)
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Mit Dank an:
Florian Hauschild, le bohémien