Gestern musste ich etwas Zeit im Wartezimmer verbringen – und habe dabei einige Ausgaben des „Stern“ gelesen. Geht ja schnell, steht ja eigentlich nichts drin – ausser den Kolumnen von Hans Ulrich Joerges. In einer – es war, glaube ich, jene mit dem Titel „Glaubt nichts! Zweifelt!“ schreibt er über jenes Gefühl, das uns alle beschleicht: das Gefühl des drohenden Endes. Ich dachte nur: „Hoppla! Der Mann könnte Blogger sein!“. Jene neue Form des Journalismus, der sich als Bürgernotwehr gegen etablierte Medien gebildet hat, die mit Gewalt ihre rosarote Tittenbrille jedem Menschen zum Zwecke der Leistungssteigerung aufsetzen wollen, bis … ja bis letztlich die Rechnung kommt. Wir hier draußen merken das recht deutlich … an den Gemeindefinanzen, die einfach nur noch „katastrophal“ zu nennen sind. Bei der Verteilung der Ressourcen fallen wir auch ständig hinten ´runter … und bekommen jetzt nochmal ein paar Millionen Euro weniger.
Wer zahlt das? Nun, die, die noch was haben. Hier kommen wir jetzt in Situationen, wo sich die Arbeitslosen entspannt zurücklehnen können: die drastische Erhöhung der Wassergebühren wird bei ihnen vom Amt übernommen (sofern sie angemessen ist, nehme ich mal an). Die anderen jedoch … trifft es hart, ganz vorne die Witwen mit der kleinen Rente, die im selbstgenutzten Wohnraum wohnen und jeden Tag mit Angst zum Briefkasten gehen: wer in Deutschland Eigentum geschaffen hat, wird bestraft – nicht nur im Falle der Arbeitslosigkeit. Wohneigentum entwickelt sich zu einer Falle im Alter, die finanzpolitisch ausgeschlachtet wird: bei jeder Straßensanierung wird der Anlieger finanziell mit herangezogen: für Witwen mit kleiner Rente das Aus. Sie wollen dann nur noch sterben. Fünfzig Jahre am Haus gewerkelt, und dann vom Gesetzgeber finanziell an die Wand gepresst … da bleibt kein großer Lebenswille übrig.
Momentan noch redet sich die Regierung die UN-Kritik schön, die eigentlich für jeden tagesaktuell gebildeten deutschen Politiker nicht neu sein sollte. Schon im Februar 2010 meldete der Spiegel: die Zahl der Armen in Deutschland wachse rasant, die Bundeszentrale für politische Bildung bestätigt den Trend schon zuvor:
Im Jahr 2008 waren in Deutschland 15,5 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet (2005: 12,7 Prozent).Zehn Jahre zuvor waren es noch 9,1 %.
Armutsfaktoren sind Arbeitslosigkeit, Krankheit, Scheidung oder … Kinder, „unwirtschaftliche Haushaltsführung“ führte nur bei 8,5 % der überschuldeten Haushalte in die finanzielle Katastrophe, d.h. die handelsübliche Beschimpfung der Armen als „selber schuld“ trifft hier nur eine kleine Minderheit, bei 91,5 % griff die Regel: „Arm durch das System“ – also Armut per Gesetz oder politischem Willen. Wie das praktisch aussieht, berichtet der Stern aktuell in einem Extra über Armut: spendet eine gute Seele für ein hartz-abhängiges Kind, wird umgehend der Regelsatz gekürzt und der Staat steckt sich die Spende in die eigenen Tasche. Ähnlich verfahren auch Diktatoren in Entwicklungsländern mit Entwicklungshilfe – und aus der Perspektive heraus versteht man vielleicht auch die Kritik der UN besser: hier geht es um ein menschenfeindliches Prinzip, das die – oft selbst auf Entwicklungsländern stammenden – hochkarätigen Fachleute auch dann erkennen, wenn es im Armani-Anzug daherkommt.
Sozialstaat heißt Sozialstaat, weil er ein Bündnis von Menschen gegen die Unbillen des Lebens darstellt. Alter, Krankheit, Tod von Angehörigen, Kinderversorgung: alles Lebensrisiken, die in frühen dörflichen Gemeinschaften den Einzelnen bedrohten und mit noch soviel Fleiß nicht aufgehalten werden konnten. So entstanden die ersten Sozialkassen. Mit der Vernichtung der dörflichen Lebensstruktur und ihrer Verengung auf den „Arbeitsplatz“ kam „Arbeitslosigkeit“ als Ersatz der „Missernte“ und der „Krankheit“ hinzu: auf einmal konnte man nämlich mitten im Reichtum trotz eigener Gesundheit und Rekordernten vom Hunger bedroht werden: die Not war nicht getilgt worden, sie hatte ihre Gestalt geändert. Es sah aber so aus, als würden wir sie in den Griff bekommen, bis … ja bis das Großkapital den europäischen Sozialstaat sah. Erste Berichte über diesen gierigen Blick auf die europäischen Sozialstaaten tauchten Anfang der achtziger Jahre auf – kaum jemand hatte sie groß ernst genommen. Man wollte diesen dicken Kuchen für sich haben, entwickelte Strategien, förderte gewisse Politiker, Moden, Strömungen bis letztlich die Saat aufging: die Sozialkassen standen zur Plünderung bereit. Hauptsächliches Mittel war: die künstlich produzierte Arbeitslosigkeit, hauptsächliches Instrument: der angestellte Manager.
Sofort folgten Kündigungswellen nach Kündigungswellen, auch Bund, Länder und Gemeinden folgten dem Beispiel. Jeder Manager, der Superboni wollte, schmiss erstmal Leute ´raus, was sich kurzfristig immer gut in den Bilanzen macht – dafür durften die Überlebenben dann mehr schuften. Der Sozialstaat wurde dadurch unbezahlbar, die Macht der Gewerkschaften gebrochen, Mangel und Furcht machten sich in den Industrieländern breit während die Tätergehälter perverse Entwicklungen durchmachten. Man wurde halt gut bezahlt für die Vernichtung von Volkswirtschaften. Den Täter war klar, was ihnen blühen würde, wenn die Völker merken würden, wohin die Reise ging.
Die Medien unterstützten diese Entwicklung durch die Etablierung neuer Menschenbilder: junge, nie alt oder krank werdende kinderlose hübsche Karrieremonster bevölkerten die Zeitungen und Fernsehsendungen nach Vorbildern der alten griechischen Göttersagen – so konnte man werden, „wenn man es geschafft hatte“. Und die Menschen glaubten diese Märchen, sie glaubten, es seien Naturgesetze im Spiel, wenn „Models“ oder „Tennisprofis“ auf einmal mehr Geld bekamen als jene Menschen, die fünfzig Jahre lang deutsche Autobahnen reparierten.
Es waren aber keine Naturgesetze, sondern menschliche Entscheidungen, die auf höchster Ebene getroffen wurden – wie alle Entscheidungen, bei denen viel Geld verteilt wird. Schritt für Schritt hat man uns dazu erzogen, gegenüber den medialen Göttern bescheiden zu sein, unser eigenes Leben gering zu schätzen und glücklich darüber zu sein, das wir via Bildschirm über die aktuellen Entwicklungen im Olymp informiert werden. Das die Götter dadurch Götter wurden, das jemand bewußt entschieden hat, für das Hobby Fussballspielen jetzt einfach mal zwanzig Millionen an den Spieler zu bezahlen, dreissig Millionen für ein Model oder fünfzig Millionen für einen Schauspieler, das wurde uns nicht gesagt. Für uns … war das auf einmal einfach so.
Was wir aber merkten, war, das für die Maurer, die Altenpfleger, die Kindergärtner, die Bauern, Bäcker, Lehrer und Bergarbeiter kein Geld mehr da war. Klar, die Geschichte beweist eindeutig: Nationen werden durch ihre Fussballer, Models und Komödianten groß. Babylon, Rom oder das britische Weltreich wären undenkbar ohne die Leistungen ihrer Sänger, Turner und Gaukler – oder? So erobert man Imperien: durch Comedy und Modeschauen.
So haben wir uns wertlose Werte verkaufen lassen, denen wir heute noch folgen ohne es groß zu merken. Wir bemerken aber die Folgen des Wertesystems, das – schätze ich mal – gezielt von Werbepsychologen analog zum griechischen Götter- und Halbgötterhimmel entworfen wurde. Wir waren so etwas halt gewohnt, das Bilderverbot des Christentums kam uns schon immer etwas langweilig vor.
Der Mittelstand, die Bastion von Demokratie, Zivilisation, Wohlstand und Fortschritt wurde fortlaufend zerstört … der Stern berichtet gerade aktuell über die neuen Sargnägel.
Mehr und mehr Volksgruppen werden selektiert und zum Abschuss freigegeben – und mit jedem Abschuss werden neue Milliarden frei, die direkt auf die Konten der neuen Götter fließen. Die Bankvorstände ersetzen Zeus persönlich, der mit seinen Zinsblitzen über das Theater wacht. Nach den Arbeitslosen sind jetzt die Hausbesitzer dran, die Rentner und die Kranken werden die Nächsten sein … denn die neuen Götter haben nicht nur die Sozialkassen im Visier.
Da gibt es auch noch viel Erspartes im Mittelstand – sehr viel. Darum ist schon jetzt abzusehen, das der Mittelstand zur aussterbenden Art wird … während er aufmerksam, brav und folgsam den Abenteuern von Paris Hilton, den Modeschauen des Tennisprofisohnes oder den Pufforgien der Fussballgötter folgt. Nach seinen eigenen Werten befragt, offenbart der Mittelstand seine Nützlichkeit: Rechnungen pünktlich bezahlen, bescheiden und sparsam wirtschaften, das Glück im Kleinen suchen und an die Zukunft seiner Kinder denken … Werte, die direkt in die Armut führen.
Jedenfalls in dem System der neuen abscheulichen Mediengötter.
Merkt niemand, wie sehr unsere modernen Society-Geschichten jenen Geschichten ähneln, die sich die Heiden über ihre Götter (und ihre Affären mit Menschenfrauen) erzählt haben … und wie sehr wir uns dadurch wieder von dem Idealbild des aufgeklärten Bürgers entfernt haben? Früher waren die griechischen Götter die einzigen „Promis“, über deren Abenteuer man in jeder Stadt sprechen konnte. Schaue ich mit die „Promikultur“ und ihre gezielte Förderung durch Medien und Wirtschaft an, so denke ich mir: so würde ich es auch machen, wenn ich dem Mittelstand erstmal das moralische Rückgrat brechen möchte: ich demonstriere ihm, das schön aussehen ausreicht, um mehr Geld zu verdienen als er es jemals mit der Reparatur von Autobahnen, der Reparatur von Autos oder der Pflege von Menschen verdienen kann. Hat er das erstmal als normal anerkannt, ist er sich seiner Minderwertigkeit bewusst, die ich ihm via Privatfernsehen nochmal täglich vorführe … zur Not mit der Supernanny im eigenen Haus … dann hole ich mir sein Geld, indem ich ihn dort packe, wo er nicht nein sagen kann: ich erhöhe die Unterhaltskosten für sein Eigenheim, die Kosten für Benzin … und fürs Essen.
Preise sind geduldig. Bis er merkt, das nicht sein Gehalt zu niedrig sondern die Preise zu hoch sind, ist er pleite … und kann sich keine Gedanken mehr darüber machen, das es konkrete Menschen waren, die sich zusammenrotteten um sein Geld in ihre Geldspeicher zu pumpen.
Und Kraft zum Widerstand wird er nicht mehr haben, denn er hat vor allem eins gelernt: er ist minderwertig und kann dankbar sein, wenn die neuen Götter seine Opfergaben annehmen … und vielleicht gibt es ja sogar mal via E-Bay ein Autogramm als Gunst- und Gnadenbeweis.
Dagegen zu predigen ist so sinnlos wie der Versuch der griechischen Philosophen, ihre Mitmenschen die nutzlose und teure Anbetung ihrer Götter auszureden – und doch bleibt es die moralische Pflicht der Philosophie, ab und zu mal ein Licht auf das Desaster zu werfen. Es mag dem einen oder anderen helfen, sich von dem System zu emanzipieren und nicht mehr nur Zahl- und Wahlvieh zu sein.
Und vielleicht … inspiriert es ja auch manch einen, mal zu hinterfragen, warum Schauspieler, Musiker und Profisportler die Spitzenverdiener unserer Kultur sind, während Koch, Altenpfleger und Kellner mit Zahnarzthelferinnen und Friseuren ums Überleben kämpfen.
Ein Tipp: das ist kein Zufall – noch hat es irgendetwas mit „Markt“ zu tun … aber viel mit „Marketing“.