Ich arbeite viel mit Kindern. Das hält jung – und führt dazu, das man in seiner Sprache Reduktionen vornehmen muss, um Fragen kleiner Menschen verständlich beantworten zu können. Natürlich weiß ich, das die naiven und einfachen Antworten, die man Kindern gibt, niemals der komplizierten und verschachtelten Wahrheit einer marktwirtschaftlich versorgten Demokratie des 21. Jahrhunderts gerecht wird, aber manchmal habe ich den Eindruck, das man mit einfachen Worten der Wahrheit näher kommt als mit den komplizierten Erklärungen der Parteien.
Wie erkläre ich zum Beispiel das Phänomen, das eine demokratische Regierung den Leidensdruck der Bevölkerung permanent erhöht? Das ist eine Erfahrung, die Kinder arbeitsloser Eltern selbst machen, wenn ihre Eltern das Bildungspaket in Anspruch nehmen. Ist nämlich die Nachhilfe nicht erfolgreich, muß der Betrag zurückgezahlt werden. Das wird sich sicher auch mal auf den Grundschulbesuch ausweiten. Kommt das Kind nicht mit, müssen die Eltern Schulgebühren bezahlen.
Wenn wir einen König hätten, würde die Sache vielleicht deutlicher. Käme da jemand daher und würde dem König drohen, ihm bei mangelndem Wohlverhalten das Essen zu streichen, dann wüssten wir schnell, wie wir ihn nennen würden: einen Lumpenhund, einen wüsten Gesellen, einen Erpresser – kurz: einen Terroristen. Dem König das Essen klauen: wäre ja noch schöner!
Geschieht dasselbe mit dem demokratischen Souverän, kommen wir erstmal noch nicht auf den Gedanken. Zu neu ist noch der Gedanke, das wir selbst eigentlich die Souveräne dieses Landes sind und das hier eine Grenze überschritten wurde, die niemals hätte überschritten werden dürfen.
Oder wir haben jemanden, der den König krank macht, in dem er ihn beständig mit Anforderungen überschüttet, die dieser gar nicht erfüllen kann oder so unter Leistungsdruck setzen, das er ohne Ritalin gar nicht mehr leistungsfähig wäre, wir wüssten sofort, das dieser Mensch eine Anklage wegen Majestätsbeleidigung und Körperverletzung zu erwarten habe. Geschieht dies beim normalen demokratischen Souverän, so nehmen wir das gelassen hin.
Was wäre, wenn jemand dem König seinen Besitz wegnehmen würde, um sich daran zu bereichern? Einen Dieb würden wir ihn nennen, einen Räuber. Unverzüglich würde die Polizei kommen und ihn zur Strecke bringen. Der demokratische Souverän jedoch soll damit leben, das er die höchsten Steuern und Sozialabgaben im internationalen Vergleich zu leisten hat während eine wachsende Zahl von Bürgern sich in angeblichen Notzeiten zu Millionären mausert – in Deutschland mit einem Anstieg von 6,3 %? Viele scheinen gut daran zu verdienen, dem Souverän die Butter vom Brot zu nehmen.
Das riecht nicht nur nach Dieberei, das riecht nach organisiertem Verbrechen. In Italien offenbart sich gerade wieder eine Geheimloge, die dieses Geschäft – wie zuvor die Propaganda Due – systematisch betreibt. Die Geschichte demokratischer Staaten zeigt also, das es ohne weiteres gesellschaftliche Kräfte gibt, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen und das Potential zu Verschwörung gegen den Souverän in sich tragen, eine Verschwörung, die im Falle von Hartz IV sogar schon in offene Gewalt umgeschlagen ist.
Dann dachte ich mir … wenn so viele Indizien auf die Absetzung des Souveräns und seine Versklavung hindeuten – ja, kann ich denn dann Kindern noch erzählen, das wir in einer Demokratie leben? Also: auf zu Wikipedia, dem Brockhaus der Netzgesellschaft und schauen, was denn eine Diktatur so ausmacht:
Menschenrechte stehen jedem einzelnen Menschen zu und können nicht entzogen, sondern nur verletzt werden. Dies geschieht vielfach in Diktaturen, weil die Machthaber bzw. die Partei oder die „herrschenden Klasse“ ihre Macht behalten will. Oft sollen Menschenrechtsverletzungen einem angeblich „höherem Ziel“ oder dem „Fortschritt“ dienen. Das reicht von Einschränkungen der freien Meinungsäußerung bis hin zur gewaltsamen Verfolgung politischer Gegner oder ganzer Bevölkerungsgruppen.
Das kann dann schon verblüffen: Diktatur geht auch ganz ohne „Führer“, es reicht eine „herrschende Klasse“. Menschenrechtsverletzungen werden toleriert, wenn sie einem höheren Ziel dienen? Wenn dieses Ziel – zum Beispiel – „internationale Konkurrenzfähigkeit“ heißt? Oder Aufschwung, Wachstum und Fortschritt? Ach nein … „Fortschritt“ gehört ja schon offiziell zum Sprachcode der Diktatoren. Ab wann darf man die Hatz auf Aufschwungverlierer und Globalisierungsopfer als gewaltsame Verfolgung definieren? Die Maßnahmen zur Motivationsförderung bei Arbeitslosen entsprechen in schon erschreckendem Ausmaß Prinzipien der „Weissen Folter“ hinsichtlich der sozialen und sensorischen Deprivation.
Durch die Manipulation der Zeitungen, des Rundfunks, des Fernsehens und des Internets wird das Volk in vielfacher Hinsicht – beispielsweise in der Volksrepublik China – beeinflusst und im Sinne der Regierung gelenkt.
Nur in China? Und was ist mit jenen Beobachtungen, die wir bei einem ganz harmlosen Ereignis machen, zum Beispiel bei der Besetzung von Posten im ZDF-Fernsehrat? Oder der Tatsache, das deutsche Leitmedien immer mehr zur „Hofberichterstattung“ verkommen?
In den meisten Diktaturen gibt bzw. gab es eine Geheimpolizei, die politische Gegner einschüchtert und verfolgt.
Davon sind wir ja weit entfernt, dachte ich – bis ich mal wieder merken musste, das friedliche Demonstranten durch Einsatz von Polizeispitzeln künstlich kriminalisiert werden.
Mehr und mehr merke ich, das es immer enger wird für unseren Souverän … und unsere politische Realität immer mehr Züge einer Diktatur trägt – sogar des schlimmsten Typus der Diktatur: des Totalitarismus:
Totalitarismus bezeichnet in der Politikwissenschaft eine diktatorische Form von Herrschaft, die, im Unterschied zu einer autoritären Diktatur, in alle sozialen Verhältnisse hinein zu wirken strebt, oft verbunden mit dem Anspruch, einen „neuen Menschen“ gemäß einer bestimmten Ideologie zu formen. Während eine autoritäre Diktatur den Status quo aufrechtzuerhalten sucht, fordert eine totalitäre Diktatur von den Beherrschten eine äußerst aktive Beteiligung am Staatsleben sowie dessen Weiterentwicklung in eine Richtung, die durch die jeweilige Ideologie angewiesen wird.
Typisch sind somit die dauerhafte Mobilisierung in Massenorganisationen und die Ausgrenzung bis hin zur physischen Vernichtung derer, die sich den totalen Herrschaftsansprüchen tatsächlich oder möglicherweise widersetzen. Als politisches Gegenmodell zum Totalitarismus gilt der demokratische Rechtsstaat mit der durch Grundrechte, Gewaltenteilung und Verfassung gewährleisteten Freiheit derStaatsbürger.
Wenn Demokratie aber das Gegenmodell zu Totalitarismus sein sollte, dann dürfte ich doch kein einziges totalitäres Element in einer Demokratie finden?
Und nenne ich die neue Ideologie „Neoliberalismus“, den neuen Menschentypen „Narzisst“ (auch hauptursächlich für die Finanzkrise verantwortlich und als „Leistungstypus“ im Aufwind) dann merke ich auf einmal, das ich mir nicht mehr ganz so sicher bin, nicht im Totalitarismus zu leben, sondern in einem Land, in dem eine Kaste gezielt den Souverän ausplündert. In Griechenland kann man sie sogar im Detail benennen:
Die Griechen fühlen sich betrogen von den Eliten des Landes, die am stärksten von dem weitverbreiteten System der Korruption profitiert haben. Ganz am Ende dieser Nahrungskette standen immer die einfachen Leute, die für Arztbesuche, für Behördengänge, dafür, dass ihre Angelegenheiten überhaupt erledigt wurden, in das korrupte System einzahlen mussten, auch wenn es sich oft um geringe Beträge handelte. Profitiert haben davon Beamte, Ärzte, Notare, Anwälte, die dieses Geld nahmen und davon Ferienhäuser und Autos kauften.
Da haben wir einen ersten Eindruck der „herrschenden Klasse“ , die als Lehrer und Juristen fast 30% aller Bundestagsabgeordneten stellen. Maurer, Kassierer und Altenpfleger findet man dort weniger.
Ich könnte jetzt immer unruhiger werden, mir mehr und mehr Gedanken darüber machen, wieso so viel darauf hindeutet, das wir in einen teuflischen Totalitarismus abgleiten, doch tröstet es mich, das wir zwar eine Ausgrenzung von Armen, Alten, Kranken, Behinderten und Kindern haben, aber keine dauerhafte Mobilisierung in Massenorganisationen … bis ein Artikel im Handelsblatt auch diese Illusion zunichte machte: die neue Massenorganisation mobilisiert nur anders als die SA, aber genauso effektiv:
Fanatische Markenfans glauben an ihre Produkte und verehren ihre Designer. Forscher zeigen: Vielen gibt ein Markenprodukt den gleichen Halt im Leben wie die Religion den Gläubigen.
Und wenn ich daran denke, das man zunehmen Hartz IV-Empfängern den Zugang zu Gerichten erschweren will, dann muss ich sagen: die Wahrscheinlichkeit, das wir den Schritt von Demokratie zum Totalitarismus schon längst hinter uns gebracht haben, ist erschreckend hoch – so dass ich meinen Kindern eigentlich nur sagen könnte: wir leben in einem sich ausbreitenden totalitären System, das Markenpiraterie betreibt, in dem es sich als „Demokratie“ tarnt – allein durch einen Aufnäher wird jedoch ein Massenprodukt keine Qualitätsware.
Natürlich sage ich das den Kindern nicht.
Es würde meinen Arbeitsplatz in Gefahr bringen.
Lieber sage ich, was alle sagen: wir leben in einer Demokratie und warum die Regierung den Leidensdruck auf den Souverän beständig erhöht, weiß ich auch nicht.
Meinen eigenen Kindern sage ich das selbstverständlich auch nicht. Ich fürchte mich etwas, zwischen die Fronten des politischen Kampfes gegen die Familie und die Erziehungsverantwortung der Eltern zu geraten. „Kinder in die Krippe, Eltern in die Produktion“ ist Dogma der neuen Ideologie, dem der neue narzisstisch orientierte Mensch zu folgen hat, um den Markenkult mittragen zu können.
Und morgen kaufe ich meine eigene „Jack-Wolfskin-Jacke“, trete in die SPD ein und werde Mitglied im Fussballclub um zu zeigen, das ich dazugehören will!