Vorgestern warnte ich noch vor Griechenlands Schicksal, das unsere Zukunft bedeuten könnte. Gestern wurde ich mal wieder von der Realität überholt. Zum wiederholten Male forderten der Präsident der deutschen Ärzteschaft die Rationierung von medizinischen Leistungen. Es sei einfach kein Geld da, sagt er. Ich war bereit ihm zu glauben, wurde jedoch nach einem Besuch bei der Barmer Ersatzkasse schnell eines Besseren belehrt:
Insgesamt erzielen die ambulant tätigen Ärzte neben den GKV-Honoraren noch zusätzliche Honorareinnahmen, beispielsweise von der PKV,über Privatliquidationen, von sonstigen Versicherungsträgern, den öffentlichen Haushalten und den Arbeitgebern. Realistisch liegt die Gesamtsumme der Einnahmen der Arztpraxen im Jahr 2009 bei weit über40 Milliarden Euro beziehungsweise bei deutlich über 300.000 Euro je Arzt. Abzüglich der durchschnittlichen Praxiskosten ergibt sich ein aktueller Gesamtüberschuss vor Steuern in Höhe von durchschnittlich über 190.000 Euro je Arzt. Im Vergleich zu den Einkommen aller Arbeitnehmer in Deutschland liegen die zu versteuernden Einkommen der niedergelassenen Ärzte im Durchschnitt damit um ungefähr das Siebenfache höher.
Na, das ist doch eine ganz gute Verdienstmarge, oder? Siebenmal so viel wie der Durchschnitt. Und die Tendenz? Steigend, und zwar gewaltig:
Zieht man vom durchschnittlichen Gesamtumsatz in Höhe von 310.000 Euro die durchschnittlichen Praxiskosten in Höhe von 117.000 Euro (54 Prozent des GKV-Umsatzes) ab, so verbleibt ein durchschnittlicher Gewinn (vor Steuer) je abrechnenden Arzt in Höhe von etwa 193.000 Euro. Nach der Kostenstrukturerhebung des Statistischen Bundesamtes (Statistisches Bundesamt 2006) lag der durchschnittliche Reinertrag je Praxisinhaber in 2003 bereits bei 126.000 Euro (bei einem Reinertrag je Praxis von 164.000 Euro). Seit dem Jahr 2003 sind die Gesamthonorare um insgesamt 8,7 Milliarden Euro (das entspricht 26 Prozent) gestiegen.
Während die Einkommen aller anderen Arbeitnehmer seit 1990 beständig gesunken sind, sind die Honorare der Ärzte gewaltig gestiegen. Könnte man von Ärzte Aktien kaufen – sie wären ein Bombengeschäft … jedenfalls, so lange der Steuerzahler bezahlt. Natürlich ist das auch ein Bombengeschäft für Finanzberater: Ärzte müssen mit dem Geld ja irgendwo hin. Es geht ja nicht an, das sie das einfach zu Hause unterm Bett liegen lassen. Natürlich arbeiten Ärzte viel für ihr Geld, da kann man jeden Arzt fragen, er wird das umgehend bestätigen, siehe Proxomed:
GEK-Vorstand Dr. Rolf-Ulrich Schlenker rechnet aus: „Bezieht man die Zahl auf die 137.000 niedergelassenen Ärzte in Deutschland, so hat jeder Arzt pro Arbeitstag rund 38 Patienten zu behandeln!“
38 Patienten pro Tag, 22 Arbeitstage im Monat bei 193000 Euro Einkommen macht: 230 Euro für einmal Händeschütteln.
Machen wir uns nichts vor: wer wirklich krank ist, der landet sowieso im Krankenhaus. Dort verdienen Ärzte deutlich weniger, schütteln aber mehr Hände. Die Frage, ob wir uns diese teure Überflussversorgung durch den „niedergelassenen Arzt“ überhaupt noch leisten können, stellt keiner – wagt auch keiner zu stellen, denn die deutsche niedergelassene Ärzteschaft ist fest in den Händen der internationalen Pharmaindustrie, von denen sie nicht schlecht unterstützt wird – alles auf Kosten der Beitragszahler übrigens, siehe Frankfurter Rundschau:
Erstmals hat ein Gericht niedergelassene Ärzte wegen Bestechlichkeit verurteilt: Die zwei Mediziner aus Baden-Württemberg haben rund 19.000 Euro von einem Arzneimittelhersteller erhalten.
Eine ganz kleine Firma aus dem Aachener Raum ist da mal unangenehm aufgefallen, weil den Behörden detallierte Unterlagen zur Verfügung gestellt wurden, hier veröffentlicht im Spiegel:
Die Ermittler werfen den Ärzten Betrug und Untreue zu Lasten der Krankenkassen vor. Sie hatten unter anderem an Anwendungsbeobachtungen (AWB) für Trommsdorff-Medikamente teilgenommen. In einem Formular konnten sie ankreuzen, welche Belohnung sie wollten:
- Für fünf Patienten gab es einen Flachbildschirm oder einen iPod,
- für sieben Patienten einen DVD-Recorder,
- für zwölf Patienten einen Jura-Kaffee-Vollautomaten,
- für 14 Patienten das Navigationssystem TomTom Go,
- für 18 Patienten konnten sie auswählen zwischen Laptop, Beamer oder Computer mit Drucker.
Nur Dilettanten gehen heute noch so vor, die meisten anderen wählen den sicheren Weg über Bargeld, sprich: Beratungshonorar. Jeder der großen Konzerne arbeitet so. Das ist seit Mitte der neunziger Jahre bekannt – auch den Behörden. Pharmafirmen legen umfangreiche Datenbänke über jeden einzelnen Arzt an, damit auch der Nachfolger des alten Pharmareferenten sicher seinen „Zugang“ legen kann – man weiß dann schon, wer Geld braucht, weil er noch Schulden vom alten Bauherrenmodell mit sich herumträgt.
Kleinere Modelle dieser Datenbänke sind – für Firmenneugründungen in dem Bereich unverzichtbar – käuflich zu erwerben. Wer will, kann gleich morgen damit loslegen, seine eigene kleine Pharmafirma aufzumachen. Für schlappe 699 Euro kann man 132000 Datensätze mit E-Mail-Adresse kaufen, dann die Tabletten bei einem der Lohnhersteller bestellen, Pharmareferenten bei einer Leihfirma ordern und schon geht das Abkassieren los … wenn man für den Arzt die notwendigen „überzeugenden Argumente“ hat – siehe Trommsdorff.
Die Politik ist seit zwanzig Jahren eifrig dabei, diesen Sumpf trocken zu legen … hat allerdings nicht mit der Industrie gerechnet, denn die hat zeitgleich ihre Lobbyistenoffensive gestartet, mit der sie alle ernsthaften Maßnahmen auf Regierungsebene blockiert und dafür sorgt, das noch mehr Geld aus dem Sozialbudget in die Taschen der Ärzteschaft fließt, bis letztlich für den Patienten kein Geld mehr übrig bleibt, weil der Rest in die Kassen der Konzerne fließt.
Das Geschäft in Deutschland funktioniert einwandfrei, weil wir hier mit unserem Sozialbudget einen weltweite Geldmaschine finanzieren, siehe FAZ:
Durch überzogene Pharmapreise entsteht dem deutschen Gesundheitssystem ein Milliardenschaden. Zu dem Schluss kommt auch in diesem Jahr wieder der von den Allgemeinen Ortskrankenkassen unterstützte „Arzneimittel-Report“. Arzneimittel seien in Deutschland um 50 bis 100 Prozent teuerer als in Nachbarländern, kritisierten die Autoren des Reports am Dienstag. Patentgeschützte Medikamente seien im Schnitt 50 Prozent teurer als etwa in Schweden. Für Nachahmerpräparate fielen die Kosten sogar doppelt so hoch aus.
„Nachahmerpräparate“ sind diejenigen, die wir mit unserer eigenen Firma gerade über Lohnhersteller und Mietaußendienste vertreiben wollen. Ein Supergeschäft in Deutschland, Ratiopharm macht kaum was anderes. So kann man leicht mal 19000 Euro für zwei Ärzte locker machen. Der Stern beschreibt das Geschäft in einem Artikel in Detail, spezielle Computerprogramme melden die Umsätze der Ärzte über Umwege direkt an Ratiopharm, die daraufhin gleich Schecks für Ärzte ausstellen – mit schrecklichen Folgen für das deutsche Gesundheitssystem:
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) hat festgestellt, dass Deutschland pro Einwohner so viel Geld in sein Gesundheitssystem pumpt wie kaum ein anderes. Nur die USA und die Schweiz geben pro Kopf noch mehr aus. Doch trotz höchster Ausgaben ist die Qualität im internationalen Vergleich nur mittelmäßig (gemessen an der Aufenthaltsdauer im Krankenhaus, der Lebenserwartung oder den Heilungschancen nach Brustkrebs). Warum das so ist und wo das Geld bleibt, zeigt zum Beispiel die Geschichte über die Verkaufsstrategien der Firma Ratiopharm.
Wir finanzieren mit unserem Sozialbudget keine Arbeitslosen, sondern riesige Gewinne von Unternehmen und Arztpraxen auf Kosten unserer Gesundheit. Das ist seit Jahrzehnten bekannt. Wenn also demnächst wieder jemand brüllt: „Jeder dritte Euro geht für das Sozialbudget drauf!“, zeigt einfach auf die nächste Arztpraxis samt Pharmavertreter vor der Tür, bevor wieder jemand auf die Idee kommt, jetzt müsse die Obdachlosenunterstützung endlich komplett gestrichen werden, weil wir sonst alle verhungern.
Aktuell wird der volkswirtschaftliche Schaden, allein durch diese Praxis verursacht wird auf 20 Milliarden Euro geschätzt. Im Vergleich: für Ärztehonorare geben wir allein 30 Milliarden Euro aus, 60 Milliarden kostet die Versorgung im Krankenhaus. Details gibt es bei Doc Check:
Während der größten Wirtschaftskrise der Bundesrepublik ist das Honorar der rund 150 000 niedergelassenen Ärzte im vergangenen Jahr auf 30,8 Milliarden Euro gestiegen. Im Vorjahr hatten die Mediziner noch rund 1,8 Milliarden Euro weniger verdient.
30 Milliarden Euro für Honorare. Die gleiche Summe geben wir für Arzneimittel aus … zu oft einfach nur teuer und nutzlos sind:
In den vergangenen zehn Jahren haben sich etwa 40 Prozent der als innovativ eingeführten Medikamente im Nachhinein als Präparate ohne Mehrwert für Patienten erwiesen. Zu dem Schluss kommt Gerd Glaeske, Professor am Zentrum für Sozialpolitik der Uni Bremen im heute, Mittwoch, in Berlin vorgestellten Barmer GEK Arzneimittel-Report 2010.
Ich denke aber, man versteht nun, warum auf einmal kein Geld mehr für die Patienten da ist. Nutzlose Medikamente zu Höchstpreisen unters Volk zu bringen, kostet halt was. Das wäre ja auch in Ordnung, denn das ganze System finanziert ja auch Arbeitsplätze:
Ende 2008 waren insgesamt 4,6 Millionen Menschen oder etwa jeder neunte Beschäftigte in Deutschland im Gesundheitswesen tätig. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, waren das rund 76 000 Menschen oder 1,7% mehr als ein Jahr zuvor.
Das beschäftigt viele Menschen zu guten Preisen, die sonst arbeitslos wären. Wenn aber nun wieder einmal der Ruf durch das Land geht, das für die wirklich Kranken kein Geld mehr da ist bzw. das man nicht mehr alle von ihnen behandeln kann und von der Politik Selektionskriterien wünscht, nach denen man einfach mal ein paar Tausend Patienten auf den Biomüll werfen kann, dann ist es doch Zeit, einfach mal grundsätzliche Fragen zu stellen:
Brauchen wir wirklich den niedergelassenen Arzt?
Brauchen wir wirklich Höchstpreise für Ramschpillen?
Brauchen wir 4,6 Millionen Beschäftigte in einem Sektor, der weder Heilung bringt noch die Lebenserwartung verbessert?
Antworten auf diese Fragen werden wir nicht erhalten. Nicht nur gegen Dummheit, auch gegen Konzerne kämpfen Götter selbst vergebens.