Den Artikel gestern hätte mich mir sparen können. Da mache ich mir groß Gedanken, wie wohl die BA auf die Idee kommen kann, das jetzt ein Jobwunder auf uns zukommt, suche mir die Augen wund nach Daten und erfahre heute: das hat einfach die Ministerin angeordnet! So schreibt der Spiegel heute:
Den Jobcentern steht im kommenden Jahr eine Herkulesaufgabe ins Haus: Arbeitsministerin von der Leyen hat die Bundesagentur für Arbeit darauf eingeschworen, 2011 rund 900 Millionen Euro bei den Hartz-IV-Kosten einzusparen. Dazu müssten viele Langzeitarbeitslose wieder einen Job finden.
Damit stünden die Kerndaten der geplanten Zielvereinbarung für 2011 fest, die das Arbeitsministerium jedes Jahr mit der Bundesagentur für Arbeit (BA) abschließt, schreibt die Zeitung. Im auslaufenden Jahr wurden nach Angaben der Behörde etwa 950.000 Hilfsbedürftige, die Arbeitslosengeld II bezogen, in den Arbeitsmarkt integriert. „Wir wollen 2011 noch erfolgreicher werden“, sagte eine BA-Sprecherin.
So funktioniert Wirklichkeitsbearbeitung in Deutschland: die Politik befiehlt und die Wissenschaft liefert passende Zahlen dazu. Im erweiterten Familienkreis habe ich zu Jahrebeginn 2011 drei neue Arbeitslose – zwei Pflegeberufe und einen 53-jährigen Opel-Monteur, dem man wegen „Verjüngung der Belegschaft“ seinen Arbeitsplatz für 180000 Euro abgekauft hat. Letzteres darf ich wahrscheinlich gar nicht öffentlich sagen, da man den anderen Fünfzigjährigen, denen man den Arbeitsplatz abgekauft hat, ein Schweigegebot aufdrückte. Aber ich kann ja mal sagen: „Der Wind hat mir ein Lied geflüstert“.
Laut statistischem Bundesamt haben wir knapp 43 Millionen Erwerbspersonen. Eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben laut Bundeszentrale für politische Bildung BpB knapp 27 Millionen, deren Quartalsentwicklung der Blog „Querschüsse“ akurat auflistet. Aktuell sind es knapp 28 Millionen. Was arbeiten also die FÜNFZEHN MILLIONEN anderen „Erwerbspersonen“? Selbst wenn wir die vier Millionen „Selbstständigen“ abziehen, bleiben noch 11 Millionen über.
Nach meiner persönlichen privaten Definition von Arbeitslosigkeit würde ich sagen: wer keinen festen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz hat, der macht irgendeine Form von staatlich subventionierter Beschäftigungstherapie. Ist ja auch de facto so, wovon sollten die Leute sonst leben? Trotzdem wird gejubelt, hier wieder BpB:
Die gute konjunkturelle Entwicklung ließ die Zahl der Erwerbstätigen mit Arbeitsort in Deutschland bis zum vierten Quartal 2007 auf 40,38 Millionen steigen – das war der bisher höchste Quartalswert in der Geschichte der Bundesrepublik. Im ersten Quartal 2008 lag die Erwerbstätigenzahl saisonal bedingt etwas niedriger bei 39,82 Millionen.
Hat da einer was von mitbekommen? Der Zustand der Vollbeschäftigung im Jahre 2007? Dem Jahr, wo wir alle reich wurden und es soviel Arbeit gab wie noch nie?
Ich nicht. Aber die Statistik schon. Das aber fünfzehn Millionen Menschen in diesem Land (und damit ÜBER DREISSIG PROZENT) der Erwerbestätigen irgendwelchen Schummeljobs oder Scheinselbständigkeiten nachjagen müssen, während die anderen seit Jahrzehnten auf die erste reale Lohnerhöhung warten aber lieber ruhig bleiben und drauf warten mit fünfzig aus dem Unternehmen gekauft zu werden (und vielleicht klappts ja bis dahin mit dem Lottogewinn).
Das war aber 2007, dem Jahr des statistischen Wunders, laut Tagesspiegel schon deutlich zu erkennen:
Trotz der relativ positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist die Zahl der Hartz-IV-Empfänger gestiegen. Die „hoffnungsvolle Botschaft“ sei ein Trugbild, erklärte Hans Jörg Duppré vom Deutschen Landkreistag.
Entgegen der insgesamt rückläufigen Arbeitslosenstatistik beklagt der Deutsche Landkreistag (DLT) eine stetig wachsende Zahl von Hartz-IV-Empfängern. „Die Zahl der Menschen, die von Hartz IV-Leistungen abhängig sind, hat einen absoluten Höchststand erreicht“, sagte DLT-Präsident Hans Jörg Duppré. Demnach stieg die Zahl der Hilfeempfänger im April dieses Jahres auf rund 7,4 Millionen.
Der Landkreistag kritisierte, dass die Zahl der Hartz-IV-Bezieher bislang auf die Langzeitarbeitslosen verengt werde. Ein-Euro-Jobber mit mehr als 15 Wochenstunden, Kranke oder Ausbildungsplatzsuchende etwa fänden sich dagegen nicht in der Arbeitslosenstatistik wieder, obwohl deren Lage oft nicht besser sei.
So sah die Realität vor Ort aus. Laut Statistik war aber alles super … so, wie die Regierung es gerne als Beweis für ihre erfolgreiche Arbeit sah. Also wissen wir doch jetzt schon, was die Statistik für 2011 aussagen wird: eine deutliche Abnahme der Arbeitslosigkeit. Aktuell sieht es – hier bei Sozialleistungen.info – so aus:
Das Statistische Bundesamt gab am heutigen Donnerstag bekannt, dass am Jahresende 2009 rund 6,7 Millionen Deutsche auf Hartz IV angewiesen waren. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum entspricht dies einer Zunahme um 1,9 Prozent. Bei einem Viertel der Hilfebedürftigen handelt es sich den Statistikern zufolge um Kinder unter 15 Jahren.
Insgesamt müssen mittlerweile 7,8 Millionen Menschen zur Existenzsicherung auf staaliche Transferleistungen zurückgreifen. Fast jeder zehnte Bundesbürger (9,5 Prozent) bezieht damit Leistungen wie etwa ALG I, ALG II, Sozialhilfe oder Grundsicherung im Alter. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts musste der Staat im Jahr 2009 für alle Sozialleistungen etwa 41,6 Milliarden Euro ausgeben, wobei sich die Kosten allein für das ALG II auf 35,9 Milliarden Euro beliefen.
Und da fehlen wie üblich jene Millionen Wanderarbeiter, die irgendwo zwischen den Definitionsgrößen der statistischen Erfassung verschwunden sind. Ein Beispiel aus dem Jahre 2007 (also jenem statistischen Rekordjahr) zeigt laut BpB Perspektiven, die wohl eher der erlebten Wirklichkeit der Bürger nahekommt:
Die sich nur langsam verändernden Jahreszahlen zur Arbeitslosigkeit vermitteln ein sehr statisches Bild. Dieses Bild ignoriert die zahlreichen Dynamiken, die sich im Bereich der Arbeitslosigkeit finden lassen. So wurden im Jahr 2007 mehr als 8.233.000 Personen arbeitslos – davon 5,6 Millionen in West- und 2,6 Millionen in Ostdeutschland. Parallel verließen im selben Jahr mehr als 8.837.000 Personen den Kreis der Arbeitslosen (West: 6,0 Mio.; Ost: 2,8 Mio.).
Die „zahlreichen Dynamiken“ sind es, die mir da Kopfzerbrechen bereiten. „Von Arbeitslosigkeit bedroht“ ist ein Zustand, den ich gerne mal statistisch erfaßt sehen möchte. Leider bin ich kein Minister, der per „Zielvereinbarung“ Ergebnisse prognostizieren kann. Ich bin nur einfacher Bürger mit einfachen Fragen, auf die die BA mit 85-seitigen Monatsberichten in Beamtendeutsch antwortet. Ob man das immer zu jeder Zeit zu versteht, wie es gemeint ist?
Dabei ist die Erreichung der ministerialen Zielvorgabe leicht zu erreichen: einfach die Bezugsgrößen ändern. Hat ja schon dieses Jahr geklappt, wie man bei Jahnke nachlesen kann:
Aufgrund einer Neuregelung in 2007 werden viele der über 58-Jährigen nicht mehr als arbeitslos geführt, obwohl sie noch arbeiten wollen.
Nach einem weiteren Gesetz zur Neuregelung von Arbeitsmarktinstrumenten werden seit Mai 2009 alle Arbeitslosen, die durch private Träger betreut werden, nicht mehr als arbeitslos gezählt. Im April 2009 waren Dritte bundesweit für rund 200.000 Personen mit der Vermittlung beauftragt, wobei die Teilnahmen an diesen Instrumenten ab Mai 2009 sukzessive auslaufen. „Unterbeschäftigt“ sind nach Bundesagentur im engeren Sinne Personen in berufliche Weiterbildung, Arbeitsgelegenheiten, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Beschäftigungszuschuss, vorruhestandsähnlicher Regelung, Arbeitsunfähigkeit (§ 126 SGB III) sowie im weiteren Sinne zusätzlich Personen mit Gründungszuschuss, Existenzgründungszuschüsse, Einstiegsgeld – Variante: Selbständigkeit oder in Altersteilzeit. Die Unterbeschäftigung im weiteren Sinne soll im März bei 4,7 Millionen gelegen haben (noch ohne Kurzarbeit) und damit 1,2 Millionen mehr als die offiziell ausgewiesene Zahl der Arbeitslosen. Hier wird also Arbeitslosigkeit versteckt.
Vielleicht wird man 2011 alle Brillenträger als Behinderte definieren und ihnen einen Status als „ü 58“ zuweisen? Schon sieht es wieder bombig aus. Das die Gemeinden die Sozialkosten der realen, nicht versteckbaren Not nicht mehr tragen können … ist dann ihr Problem.
In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern und Kritikern einen Guten Rutsch ins Jahr 2011. Wie es aussieht, wird es sehr rutschig werden. Die Zeiten, wo wir aufrecht und entschlossen in die Zukunft geschritten sind, scheinen seit langem vorbei zu sein. Stattdessen schlittern wir von einer Misere in die nächste … und gewöhnen uns dran.