Viele Nachrichten flackern heute über den Bildschirm, die meisten beschäftigen sich mit Wikileaks. Da der Inhalt der bislang bekannten Depeschen sich mit meinem Bild der USA deckt, kann ich mir die Lektüre ersparen und erwarte da nichts Neues. Die US-Politik hatte schlimmere Katastrophen folgenlos überstanden – der Überfall auf ein neutrales Land wie den Irak, vorbereitet von einem Schwall von Lügen ist wohl deutlich rufschädigender als die deutsche Kanzlerin als Teflonpfanne zu beschreiben. Währenddessen gibt es andere Nachrichten, die mir sehr nahe gehen, wie die hier bei scharf-links:
Unser Mitstreiter, Jörg G., erhängte sich heute in seiner Wohnung.
Diese Nachricht erschüttert die Mitstreiter und ehrenamtlichen Mitglieder des Sozialen Zentrums Höxter am heutigen 1. Adventtag zu tiefst.
Bei ihm fand die Polizei ein Gedicht über Angela Merkel, Jörg schrieb sehr nachdenkliche und gute Gedichte und er lebte seit längerer Zeit von ALG II. Im Beckmann Haus /Altenheim führte er zur Zeit einen Ein Euro Job durch, wo er zu spüren bekam, das man ihn nicht für voll nahm unter den Kollegen, dabei freute er sich so endlich etwas mehr Geld in der Tasche zu haben… immerzu bewarb er sich, auch im Ausland um endlich eine Arbeit zu bekommen, doch selbst mit 43 Jahren ist man wohl in der Berufswelt schon zu alt und erhält keine Chancen mehr.
Gesellschaftlich war er integriert, konnte aber an vielen Dingen nicht teilnehmen, da Versammlungen in Lokalen durchgeführt wurden in welchen sich ein ALG II ler kein Getränk leisten kann.
Jörg hatte auch viele Freunde und auch in unser Soziales Zentrum kam er oft und regelmäßig, keiner ahnte wie es in ihm ausschaut und er diesen Weg als einzigen Ausweg für sich sah erschüttert uns sehr.
Wieder einmal schlug das Gespenst Hartz IV um sich, und ein junger Mensch ist plötzlich nicht mehr unter uns.
Eine unmenschliche Hartz IV Gesetzgebung treibt viele seit Januar 2005 in den Freitod, wann endlich übernehmen die verantwortlichen Politiker hierfür die Verantwortung?
Wir wissen, das Arbeitslosigkeit krank macht – vor allem (aber nicht nur) psychisch krank. „Psychisch krank“ ist eine stark zunehmende Diagnose für unsere ganze Gesellschaftsform. Manchmal habe ich den Eindruck, das man im politisch verantwortlichen Bereich hier gerne „eingebildete Krankheiten“ vermutet, um die Ernsthaftigkeit der Lage zu kaschieren – was den Betroffenen nicht wirklich hilft. „Psychisch krank“ kann nämlich jederzeit tödlich enden – wie Krebs. „Psychisch krank“ kann bedeuten, das sich die Intelligenz und Tatkraft eine Menschen gegen ihn selbst richtet.
Suizid ist in Deutschland die häufigste nicht natürliche Todesursache. Laut „Pharmazeutischer Zeitung“ waren das im letzten Jahr 9571 Menschen, die sich das Leben genommen haben. Entsprechend einer Studie der UKE ist der Trend in Deutschland insgesamt rückläufig, allerdings zeigen die Autoren auch sehr deutlich auf, woher der Wind weht:
Das Risiko eines Suizids ist bei Menschen mit einer psychischen Erkrankung generell erhöht. Als Gruppen mit im Vergleich zur Gesamtbevölkerung erhöhtem Suizidrisiko gelten besonders Depressive, Alkoholiker, Medikamenten-und Drogenabhängige und Alte und Vereinsamte. Suizidalität hat ein hohes Mortalitätsrisiko: Nachuntersuchungen ergaben, daß ungefähr jeder 5. bis 10. Mensch, der einen Suizidversuch unternommen hat, später durch Suizid stirbt.
Nochmal das Ärzteblatt (sicher kein linksradikales Meinungsmacherblatt) zu den psychischen Folgen von Arbeitslosigkeit:
Arbeitslosigkeit wirkt sich negativ auf die psychosoziale Gesundheit aus. Sie kann unter anderem zu Resignation, Rückzug, vermindertem Selbstwertgefühl, vermehrter Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen, Familien- und Partnerschaftskonflikten, sozialer Isolation, Schlafstörungen, depressiven Störungen, Angsterkrankungen, Suchtmittelkonsum und suizidalen Handlungen führen.
Und was unternimmt nun der Staat in diesem Zusammenhang? Bedroht die Bürger eines demokratischen Rechtsstaates mit Hunger, wenn sie nicht gehorchen. Wenn man im Politikunterricht einer Berufs- oder Hauptschule fragen würde, das denn das für Staaten sind, die ihren Bürgern mit langsamen, qualvollem Tod drohen (selbst wenn sie diese Drohung erstmal nicht wahrmachen), dann wird auch auf diesem nichtakademischen Bildungsniveau das Urteil einhellig sein: SCHURKENSTAATEN.
Das ist die Botschaft, die die Agenda 2010 unters Volk gestreut und die Franz Müntefering nochmal verdeutlicht hat, damit auch ja niemand etwas falsch versteht:
Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.
Viele „Sanktionierte“ im Bereich Hartz IV wissen, das das praktische Konsequenzen hat. Auch die, die noch keine Sanktionen erleben mußten, kennen die Tage, wo fünf Scheiben Brot für die Familie reichen mußten, weil Kosten für Reparaturen alle Rücklagen schlagartig aufgebraucht haben. Zudem kommt auch noch die „fürsorgliche“ Stimmung in der Gesellschaft hinzu, die auch ohne Armut suizidgefährdend sein kann, wie der Suizidforscher Wollersdorf in der wiwo schreibt:
Wolfersdorf: Selbst wenn es den Anschein hat, geht es bei einem Suizid nicht primär um wirtschaftliche Not. Das Entscheidende ist vielmehr der wahrgenommene Ehrverlust. Es gibt Hartz-IV-Empfänger, die sich töten, weil sie keine Weihnachtsgeschenke für ihre Kinder kaufen konnten. Auch bei ihnen spielt nicht der akute Geldmangel die zentrale Rolle, sondern das Gefühl persönlichen Versagens.
Für Hartz-Abhängige ist der Alltag schon Kampf genug – Kampf um Überleben gegen die Gesellschaft, die sie umgibt … und gegen sich selbst, die eigenen Ansprüche, Ideale, das eigene Selbstbild. Mit Hartz IV in einem der reichsten Länder der Welt zu überleben, trotz der Verachtung, der Geringschätzung und des teilweise unverhohlenen Hasses, der einem entgegengebracht wird, ist eine Leistung. Eine sehr große psychische Leistung, eine Leistung die alle Kräfte der Selbstmotivation, des Überlebenswillens und der Selbstdisziplin beansprucht. Aus der Perspektive heraus ist es jedoch nicht verwunderlich, das man keine Kräfte mehr übrig hat, um sich dem Erwerbsleben zuzuwenden. Insofern sind die „Sozialhilfekarrieren“ von Politik, Medien und Gesellschaft selbst geschaffen, weil hier – aus medizinisch-psychologischer Sicht – systematisch menschliche Wracks gezüchtet werden, damit man auf der anderen Seite Ressourcen zur Millionärspflege übrig hat.
Die Zusammenhänge sind logisch, plausibel … und trotzdem wundern sich manche Kreise, das die Masse der Hartz IV-Abhängigen nicht die Revolution ausruft. Der „heiße Herbst“ der Gewerkschaften ist deshalb – laut Martin Behrsing bei scharf links – einfach ausgefallen:
Am 26. November das „Sparpaket stoppen! Bundestag belagern!“, so lautete der Aufruf des Berliner Bündnisses „Wir zahlen nicht für Eure Krise“. Die Absicht: Am letzten Tag der Haushalteberatungen in die Bannmeile des Bundestags einzudringen und den Abgeordneten rote Karten für ihre höchst unsozialen Kürzungen zu Lasten von ausschließlich armen Menschen zu zeigen, während die Profiteure der Krise weiterhin belohnt werden. Doch dazu kam es nicht.
Nun, zumindestens weiß ich jetzt, welch´ tolles Ereignis hier stattfinden sollte. Seit Monaten jubeln hier ja Einzelne herum, das die Erlösung dicht vor der Tür steht. Mir ist dieses falsche Spiel mit menschlichen Hoffnungen zutiefst zuwieder, ebenso wie der Mißbrauch menschlichen Elends zur Beförderung der eigenen politischen Karrieren. „Keiner von uns ahnte, wie es in ihm ausschaute“ … und es interessiert doch auch wirklich niemanden, wie es in bei den Betroffenen ausschaut, oder? Darum träumt man monatelang von der Weltrevolution, phantasiert sich jubelnde Massen von Sozialstaatsrettern herbei anstatt sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Niemand wäre im dritten Reich auf die Idee gekommen, eine Revolte gegen das System auf den Schultern von KZ-Insassen zu veranstalten. Bei diesem Vergleich wird jedem klar, das es Unsinn wäre. Kaum jemand nimmt die soziale Lage von Hartz IV-Abhängigen so ernst, das er die Paralellen sehen könnte – oder wollte. Wer arbeitslos ist und Hartz IV bezieht, ist Leibeigener einer staatlichen Behörde – per Gesetz. Er hat Hausarrest und muß telefonisch jederzeit erreichbar sein. Viele sind alleinerziehend und schon deshalb ans Haus gebunden. Und alle wissen genau, das jeden Tag der Kürzungsbescheid ins Haus flattern kann, das man der Willkür manchmal sicher auch völlig inkompetenter Sachbearbeiter völlig ausgeliefert ist.
Anders als bei KZ-Insassen kann der unerträgliche Zustand aber ganz leicht geändert werden … einfach durch ARBEIT. ARBEIT macht nämlich wieder FREI, diesmal wirklich. Im Prinzip (und ich möchte hier auf PRINZIP verweisen) sitzen Hartz-Abhängige im ihrem eigenen Privat-KZ. Nicht im Vernichtungslager, sondern in jener Anstalt, die geschaffen worden ist, um ihnen Gelegenheit zu geben, sich auf ihre Pflichten zu konzentrieren: alle Arbeitskraft zu geben zum Wohle der Rendite ohne ständiges Schielen auf Bürger- und Menschenrechte.
Proteste gegen Stuttgart 21 und Gorleben sind Proteste, die auch von Rentern und Investmentbankern getragen werden können. Wer will schon wirklich mehr Steuern zahlen für die Bausünden der Politiker … oder über einem Endlager wohnen? Ich verstehe kaum, wie man sich da Hoffnungen machen konnte, diese Mengen (so viele sind es nun eigentlich auch nicht, nebenbei bemerkt) auch für die soziale Frage in Deutschland zu mobilisieren. Darüber macht sich nun Martin Behrsing Gedanken:
Es scheint, das Auslassen der sozialen Frage ist eine psychologische Abwehrhaltung, um der Angst gegen den Verlust der eigenen Klasse zu begegnen. Mithin scheinen die Verleugnungen der realen Armut von vielen Vertretern der bürgerlichen intellektuellen Schicht erklärbar und erklärt auch, warum es sozialen Bewegungen kaum gelingt, nennenswerten Protest zu mobilisieren. Deklassierte resignieren eher als sich zu wehren. Es kommt somit drauf an, in wie weit es den sozialen Bewegungen gelingen kann, exponierte Vertreter der bürgerlichen Mitte für das Anliegen der Deklassierten zu gewinnen, um die soziale Frage als das solidarisch verbindende Element weiter Teile unser Gesellschaft in den Vordergrund zu rücken, ohne sich von der bürgerlichen Mitte vereinnahmen zu lassen.
Vielleicht käme es einfach auch mal darauf an, die Deklassierten nicht selbst noch zusätzlich zu Deklassieren. Wie oft begegnet man denn in der Bewegung für ein soziales Deutschland alternden Betonkommunisten und wüste Egomanen, die nichts weiter im Sinn haben, als zu versuchen, die Menschen für ihre eigenen Zwecke zu mißbrauchen? Wäre es die Kirche, die nur dann Hilfe leistet, wenn die Schäflein auch brav zurück zum HERRN findet, wäre die die Empörung groß, heißt der HERR aber Marx, ist alles in Ordnung? Glaubt man wirklich, das Hartz-Abhängige wirklich nur blödes (ausrangiertes) Nutzvieh sind, bloß weil sie von der Gesellschaft so behandelt werden? Einfacher – und ehrenvoller, würdiger – anstatt immer wieder neuen Fähnchen hinterherzurennen (seien sie nun theistisch oder atheistisch, links oder rechts) ist es für den sozial Deklassierten, einfach arbeiten zu gehen. Das gibt ihm Würde wieder, das rettet sein Selbstwertgefühl – und wird sogar noch bezahlt. Und die Hoffnung, bald wieder Arbeit zu bekommen, hat die Mehrheit der Deklassierten (und die Mehrheit rutscht zwischendurch ja auch immer wieder hinein) – und die Zeit bis zu dem Eintritt in dieses Paradies kann man mit Fernsehen auch bei trocken Brot gut überstehen. Und das ist die Realisierung des Prinzips: „ARBEIT MACHT FREI“.
Und ist das Prinzip erstmal installiert, die Qualität akzeptiert, ist die Dimension der Ausformung des Prinzips eine Frage von kaum steuerbaren Zufälligkeiten, da ist der Schritt zur Lagerbildung und Vernichtung unwerten Lebens nicht mehr weit – und im Prinzip schon als möglich gedacht. Völkermord beginnt immer im Kopf – und dort bei der Akzeptanz von ganz einfachen Prinzipien, deren geschichtliches Ausleben in Folge tödliche Konsequenzen haben kann, wenn das Geld mal ausgeht, wie es zum Beispiel werden kann, wenn wir wirklich dreitausend Milliarden Euro brauchen, um die Folgen der EU-Krise zu bewältigen, wie die Berliner Umschau berichtet – was nebenbei auch den Vertrauensverlust der Märkte erkärt, die laut Welt langsam auch die deutsche Kreditwürdigkeit anzweifeln.
Möglicherweise sollten die Vertreter der sozialen Bewegungen, die nun exponierte Vertreter der bürgerlichen Mitte gewinnen wollen und sich über die Leugnung der Armut durch Vertreter des intellektuellen Bürgertums beschweren, mal überlegen, das es gerade Vertreter waren, die uns das Elend eingebrockt haben. Volksvertreter, Wirtschaftsvertreter, Parteivertreter, Gewerkschaftsvertreter, Bankenvertreter und was da sonst noch so alles kreucht und fleucht.
Dann versteht man vielleicht auch, warum man auf einmal anstatt eines heißen Herbstes einen kalten Winter erlebt, indem man ziemlich allein auf der Straße steht und niemanden mehr hat, den man herumkommandieren kann.
Und die Vorstellung, das man den tobenden weltumspannenden Gewalten der Globalisierung (bzw … seien wir ehrlich … der Amerikanisierung) Einhalt gebieten kann indem man einfach mal eine Demonstration in Berlin macht, enthüllt ein Ausmaß an politischer Naivität, die einfach nur Angst macht … aber nicht gerade zum Mitmachen einlädt – mal ganz abgesehen davon, das die Bewegung eine eigene Form von Grausamkeit transportiert:
„Alles könnte anders sein, wenn wir nur mehr demonstrieren“ verlangt von den Menschen nicht sonderlich viel mehr selbst vorgenommene Deformation der eigenen alltäglich erlebten Wirklichkeit als der Satz „es gibt Arbeit für alle!“, der heimlich über jeder ARGE schwebt und ihre Existenzberechtigung darstellt.
„Wer zahlt, befiehlt“ … ist eher die Realität, die sie erleben, einer Realität, der sich auch jeder Politiker jeden Tag beugt. Warum sollten die Bürger da anderer Meinung sein …