Heute haben wir ja Aufschwung, früher hatten wir FORTSCHRITT. Der FORTSCHRITT war eine Art Heilslehre, ähnlich dem Katholizismus oder dem Kommunismus, allerdings sollte er wie letzteres PARADIES NOW bringen – also genau das Richtige die schnelllebige Zeit der Moderne. Wohlstand, Gesundheit, Glück für alle – das war versprochen. Das Zeitalter der Aufklärung fegte Adel und Klerus hinfort (was oft dasselbe war) und eröffnete der Menschheit ganz neue Möglichkeiten. Krankenversicherungen, Rentenversicherungen, Arbeitslosenversicherungen sollten Freiheit bringen von den Widrigkeiten der menschlichen Existenz. Es gab noch ein paar Streitigkeiten, mit wem zusammen das Paradies nun noch paradiesiger werden würde, wer die Kommandogewalt über die Produktionsmittel in Händen halten sollte und wie man am effektivsten Volksvertreter wählt, doch der Grundtenor war klar: wir bewegen uns endlich nicht mehr nur von einem sagenhaften goldenen Zeitalter in mystischer Ferne fort, sondern wir bewegen uns auf ein paradiesisches goldenes Zeitalter hin, in dem niemand mehr arbeiten braucht, weil die Maschinen uns von diesem Fluch befreien.
Da hatte man die Rechnung erstmal ohne die SPD gemacht. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ … auf einmal war Arbeitslosigkeit im Prinzip mit dem Tode bestraft worden, was schlimm war zu einer Zeit, in der sie sowieso schon knapp war. Wo da jetzt der Fortschritt gegenüber der Leibeigenschaft sein soll (außer das man die Partei, die den Fürsten bestimmt, jetzt auch mal wählen kann), bleibt fraglich.
Schaut man sich nun im 21. Jahrhundert um so findet man langsam gehäuft Absonderlichkeiten – nicht nur Chinesinnen, die laut Spiegel Hasen foltern, sondern auch die systematische Ermordung und Verbrennung von Frauen als Geschäftszweig im ansonsten so zivilisierten Indien, hier aus einer Seite, die für indische Patenkinder wirbt:
Heiraten in Indien hat eine traditionelle und eine kommerzielle Seite angenommen. Besonders die Mitgift der Frau ist zu einer wirtschaftlichen Transaktion zwischen den beteiligten Familien geworden. Da Frauen nicht unter Stand heiraten dürfen, müssen sie sich bei einer „höheren“ Familie mit Geschenken an den Bräutigam, dessen Eltern und eventuell anderen Familienmitgliedern „einkaufen“. Dabei übersteigen die Kosten für die Geschenke und die Feier oft das Jahreseinkommen der Brautfamilie. Töchter sind somit eine teure Angelegenheit und o.g. Repressalien beruhen auf Grundlage dieser Entwicklung der Mitgift. Oft werden die Ehefrauen nach ihrer Hochzeit zu Nachzahlungen ihrer Mitgift angehalten. Kann nichts mehr gezahlt werden, fallen die Frauen oft inszenierten Unfällen zum Opfer, sprich sie verbrennen beim Kochen am Kerosinkocher o.ä.: die Schätzungen über die Zahl der Mitgiftmorde gehen bis zu 15 Frauen pro Tag! Jährlich werden mehr als 5.000 Frauen wegen der Mitgift umgebracht (Jahresbericht der Vereinten Nationen). In den meisten Fällen werden die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen. Auf Grund des Mißbrauchs der Mitgift ist diese zwar gesetzlich verboten, findet aber weiterhin statt.
Nun, lange Zeit sind wir in dem Glauben erzogen worden, das die Unmenschlichkeit eine aussterbende Verhaltensweise ist, so wie man uns auch weiß machen wollte, das Religion nur etwas für verirrte Geister ist und dort nicht gedeien kann, wo der Kommunismus herrscht. Die aktuellen Entwicklungen in den ehemaligen Sowjetrepubliken zeigt, das man sich auch da geirrt hat – der Islam ist dort lebendiger denn je. Lange Zeit haben wir ja geglaubt, das die Welt beherrscht wird von dem dialektischen Treiben, These aufgestellt, Antithese wahrgenommen, Synthese macht Geschichte – der Markt regiert einfach alles. So dachten wir, es reicht, wenn ein Franz Alt mal einen Bericht über die Situation in Indien macht, dann ist ja der These/Antithesemechanismus angeschoben und die Welt heilt sich von selbst:
Im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu gibt es Dörfer, in denen bis zu 80 Prozent aller neugeborenen Mädchen aufgrund ihres Geschlechts getötet werden. Die Jahresstatistik einer Abtreibungsklinik in Bombay sieht so aus: 100 abgetriebene Jungen, aber 6.900abgetriebene Mädchen. Im Bundesstaat Andhra Pradesh gibt es 25.000 Tempelprostituierte. Die Mädchen werden mit sechs Jahren der Göttin geweiht und müssen ab 13 Jahren Männern sexuell zu Diensten sein. Die Polizeistatistik zählt jährlich 7.000 Mitgiftmorde in Indien. Aber mitten in diesem Elend gibt es auch positive Entwicklungen: Die Deutsche Hilfsorganisation Andheri-Hilfe leistet seit 15 Jahren zusammen mit indischen Frauengruppen effektive Entwicklungsarbeit. Sie drängen zum Beispiel darauf, dass Frauenmörder nun erstmals bestraft werden. Über 140.000 Frauen arbeiten bereits in Frauengruppen mit. Franz Alt berichtet in seiner Reportage, wie sich in Indien im Lauf der Zeit der Umgangmit Mädchen verändert hat. Er zeigt Dörfer, in denen seit drei Jahren kein Mädchen mehr getötet wurde. Dutzende von ehemaligen Tempelprostituierten berichten, wie und warum sie ausgestiegen sind und jetzt andere zum Ausstiegbewegen.
Der weltweite Fortschritt der Humanität ist unaufhaltsam. Jedenfalls gehört das zum Mythos der Aufklärung, zum Mythos des unaufhaltsamen Sieges der Menschenrechte.
Wir Deutschen waren ganz vorne mit dabei, den Fortschritt in die Welt zu bringen und deshalb auch überall gut angesehen (das war noch vor Afghanistan). Auch heute noch argumentieren wir ja gerne, das wir eigentlich nur in Afghanistan sind, um die Frauen zu retten. Da stellt sich jetzt die Frage, ob wir auch in Indien einmarschieren, denn in Indien wendet sich das Blatt laut Bericht des Ökumenischen Rates gerade wieder:
„Letztes Jahr haben die Mitgiftmorde zugenommen“, sagte Premindha Bannerjee vom Christlichen Verband junger Frauen am Internationalen Gebetstag für den Frieden (21. September) im Zentrum für Integration und Gleichberechtigung in Neu-Delhi.
„Wir rätseln noch immer darüber, welches die wahren Gründe für die Mitgiftmorde sind“, erklärte Bannerjee. „Die Gesetze gegen Mitgiftmorde waren in den 1980er und 1990er Jahren erfolgreich, doch nach einer Reihe von Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof griffen sie dann nicht mehr. Es gibt ungefähr 45 äußerst frauenfreundliche Gesetze in Indien, aber ihre Anwendung ist schwierig. Wir müssen uns auf die Anwendungstechniken konzentrieren.“
Bulu Sarin von Christian Aid sagte, dass sich das Aufkommen von Gewalt gegen Frauen in Indien von physischer Gewalt auf seelische und psychische Gewalt ausgedehnt habe. Frauen, die psychisch schikaniert werden, können nun rechtliche Schritte dagegen unternehmen. Das Gesetz zur Verhütung häuslicher Gewalt ist seit 2005 in Kraft. Allerdings werden nur wenige Täter strafrechtlich belangt, weil die Frauen sich verständnislosen Polizeibeamten und Richtern gegenübersehen.
So etwas liest man selten in den Medien, die mitlerweile hauptsächlich das politisch gewollte „Tittytainment“ produzieren, um die Konsumlaune nicht erlahmen zu lassen. Wir erfahren eher was über das rasante Wirtschaftswachstum in Indien, was dann – als ungewollte Nebenwirkung – wirkliche Hilfe für die Bewohner des Landes erlahmen läßt – so läßt es jedenfalls die Andherihilfe verlauten.
Hinsichtlich der Motive, die zur Ermordung von Frauen führen, haben wir zumindest zu Beginn dieses Jahrtausends auch mal einen Fall in Deutschland verurteilt, hier in der Indien-Newsletter dargestellt:
Gurdev S. lebt seit 15 Jahren in Deutschland und ist mit einer deutschen Frau verheiratet. Trotzdem scheint er im März 2001 die 28-jährige Amarjit K. in Punjab geheiratet zu haben. Ihre Mitgift bestand aus Goldschmuck, Fernsehgerät, Motorroller, Kühlschrank und Kleider für 15 Angehörige des Angeklagten (insgesamt ein Wert von ca. 25.000 Euro.) Dies war für den Angeklagten Gurdev S. nicht genug; er wollte mehr, mehr Schmuck und ein Auto. Um seine materiellen Forderungen durchzusetzen, zündete er seine Braut an.
Durchschnittliches Heiratsalter für indische Frauen: 15, 3 Jahre.
„Todesursache Mädchen“ ist mitlerweile nicht mehr nur ein indisches Problem, wie die Unicef 2004 berichtete:
22.11.04 Weltweit fehlen schätzungsweise 60 Millionen Frauen, weil weibliche Föten gezielt abgetrieben, Mädchen als Babys getötet oder so schlecht versorgt werden, dass sie nicht überleben. Hierauf weist UNICEF anlässlich der heutigen Konferenz „Mädchen stark machen“ in Berlin hin. Besonders ausgeprägt ist die Diskriminierung in Asien: Jedes Jahr sterben allein in Südasien rund eine Million Mädchen kurz nach der Geburt oder in den ersten Lebensjahren. In Pakistan wurden allein 2002 mehr als 450 Frauen bei so genannten Morden aus Ehre von ihrer eigenen Familie umgebracht. In Indien wird alle sechs Stunden eine jung verheiratete Frau lebendig verbrannt, totgeschlagen oder zum Selbstmord getrieben, weil sich die Familien über die Mitgift streiten. In Bangladesch wurden in den vergangenen vier Jahren mindestens 1.156 Mädchen und Frauen von Männern mit Batteriesäure überschüttet. In Südafrika sind Vergewaltigungen an der Tagesordnung, jede dritte Frau wird zum Opfer.
Bevor der „Fortschritt“ sich so richtig ausbreiten konnte, rief man noch: „Frauen und Kinder zuerst“. Frauen sind sehr wichtig für das Überleben eines Stammes. Ein Stamm mit sechzig Männern und einer Frau ist tot, ein Stamm mit einem Mann und sechzig Frauen kann super überleben. Hier scheint der „Fortschritt“ eine Umwertung natürlicher Werte vorgenommen zu haben.
Was wäre … wenn es diesen „Fortschritt“ gar nicht geben würde? Dann wäre unsere Strategie, vor dem Fernseher zu sitzen und uns täglich beruhigen zu lassen, das die Welt immer hübscher wird, nicht ganz so erfolgversprechend, vor allem, weil der Rückfall in die Barbarei irgendwann ja auch uns erreichen wird.
Ach, ich vergaß: Franz Müntefering hat die Barbarei ja schon zurückgebracht: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.
Der Glaube an den natürlichen Fortschritt der Menschheit ins Paradies hat natürlich was Bequemes. Man braucht nichts tun, die gebratenen Tauben fliegen einem einfach so in den Mund – jedenfalls könnte es einem im industriellen Schlaraffenland BRD so vorkommen.
Vielleicht irren wir aber in dieser Hinsicht, und die Aufklärung war nur ein kurzes Aufflackern der griechischen Philosophie und wir marschieren in ein neues dunkles Zeitalter hinein, das jeden Tag auch ein Stück näher an unsere Haustür heranrückt. Wir haben uns ja auch darin geirrt, das die Anbetung der Göttin Kali nicht mehr mit Menschenopfer verbunden ist, so berichtet jedenfalls der Spiegel:
Die indische Polizei hat zwei Kinderleichen gefunden. Die Menschenopfer sollten ersten Erkenntnissen zufolge die Göttin Kali gnädig stimmen. Die Ermittler waren zufällig auf den Ritualmord gestoßen.
Solch ein Ritualmord ist kein Einzelfall: Im März war ein indisches Ehepaar wegen der Ermordung fünf kleiner Jungen verurteilt worden. Ein Wunderheiler hatte der Frau eingeredet, nur mit Hilfe von Menschenopfern würde sie schwanger. Im April wurde in der Nähe eines Kali-Tempels in Ostindien die enthauptete Leiche eines Mannes gefunden. 2006 hatte im Norden des Landes ein Vater gestanden, seinen Sohn für die Hindu-Göttin Kali getötet zu haben.
Dabei waren wir Kolonialmächte doch so stolz, das wir (also, hier mal: die Briten) 1882 den letzten Thug gehängt hatten, siehe „Heiliges Indien„:
Die „Thugs“ existierten seit dem 7. Jahrhundert nach Christus. Der Stamm brachte der Göttin Kali Menschenopfer dar. Dabei wurden die männlichen Opfer (Frauen wurden verschont) ausgezogen und auf körperliche Unversehrtheit untersucht. Die „Thugs“ opferten niemals körperlich unversehrte Menschen. Nach der Überprüfung wurde das Opfer langsam stranguliert, damit die Göttin sich an den Qualen erfreuen konnte. Die „Thugs“ trieben im heutigen Uttar Pradesh und in Zentral Indien ihr Unwesen. Im Jahr 1861 verboten die Briten die Opferungen des Stammes. Nachdem ein britischer Offizier von dem Stamm umgebracht wurde, begannen die Briten mit der Ausrottung. Im Jahre 1882 wurde der letzte „Thug“ gehängt.
Wäre vielleicht besser gewesen, man hätte die Thugs am Leben gelassen. Da hatten die Frauen nichts zu befürchten. Dann brachten wir den Fortschritt – und alles wurde noch schlimmer.
Das alles eher schlimmer als besser wird, merkt man glaube ich auch in Deutschland. Das kleine bundesdeutsche Friedensparadies wurde – ironischerweise gerade durch die Partei, die aus der Friedensbewegung hervorgegangen ist – in eine neue Kolonialmacht verwandelt, die Demokratie ist auf dem besten Wege, den kaiserlichen Sozialstaat (ja, so alt ist der schon) in einen demokratischen Asozialstaat zu verwandeln, die Herrschaft des Volkes (res publica) weicht der Herrschaft der Verbände – was auch irgendwo demokratisch ist aber halt mehr Leute hinten runter fallen läßt.
Aber alle lächeln, sind modebewußt, freuen sich auf eine neue Folge ihrer Seifenoper und eine Woche voller Termine.