Politik

Aufschwung des Elends, Aufstand der Mittelschicht: Sloterdijk, Sarrazin und die Psychopolitik

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Deutschland geht es prima dank Aufschwung, der das Land jetzt überall erfaßt hat. Zum Beispiel gibt es Aufschwung bei Traumatisierung von Soldaten, da erreichen wir ständig neue Rekordwerte, es gibt Aufschwung bei den Energiepreisen weil Atomkraft eben nicht billig ist, Aufschwung beim Umsatz von Luxusfüllern (und bald erfahren wir auch laut Gerichtsbeschluß, wer sich welche dieser Schreibmaschinen zugelegt hat), Aufschwung beim Kokainverbrauch sowie der Deutschtümelei , jedenfalls seitdem die SPD jetzt auch die Erhaltung der deutschen Kultur (Bierbauch, Fußball und Porno gucken?) zum Staatsziel machen möchte.

Ob der Bürger selbst die Kultur erhalten möchte, wird da gar nicht erst gefragt, weil man weiß: dem Bürger geht es immer schlechter, jedenfalls wenn man zum Vergleich mal nicht Bosnien, Afghanistan, China oder den Kongo anführt, so laut Welt:

Die Lebensqualität in Deutschland ist weit geringer als in vielen anderen reichen Volkswirtschaften. Bei einem internationalen Vergleich unter 22 wohlhabenden Volkswirtschaften lag Deutschland 2008 lediglich auf Platz 18.

Als ob man dazu noch eine Studie bräuchte.  Die Auswanderungszahlen sprechen für sich, aber bei allen Debatten über Fachkräftemangel habe ich noch nie den Vorschlag gehört: laßt uns doch einfach mal in diesem Land die Lebensbedingungen verbessern! Dann laufen uns die Fachkräfte nicht immer fort.

So etwas geht natürlich gar nicht. Dem Nutzvieh die Lebensbedingungen zu verbessern? Wieso? Die Kuh ist zum melken da, nicht um verwöhnt zu werden. Und in diesen Zeiten meldet sich der schon mal unangenehm aufgefallene „Großphilosoph“ Sloterdijk zu Wort.

Sloterdijk? Nun, ist weitläufig nicht bekannt, darum mal hier was Einführendes zur Person aus einem Interview mit dem Gewerkschaftsfunktionär Wendel bei Telepolis:

Während Thilo Sarrazin Wogen der Empörung entgegenbranden, ist Peter Sloterdijk mit seinen Gedanken zu gentechnischer Selektion, Menschenzüchtung und sozialer Aussonderung in den Medien en vogue. Er darf im ZDF sogar eine Fernsehsendung moderieren. Können Sie uns das erklären?

Michael Wendl: Sarrazin hat in der Ausdrucksweise überzogen: Seine Kritik ist zu direkt überheblich, zu „vulgär“. Und: Sarrazin ist Politiker, die gelten in der Öffentlichkeit nicht viel. Sloterdijk hat sich einen Ruf als „Philosoph“ verschaffen können. Er wird in der Öffentlichkeit nicht verstanden. Der Streit über Sloterdijk wurde in Cicero, FAZ und ZEIT, im Wirtschaftsteil der SZ ausgetragen, der Streit über Sarrazin in BILD und SPIEGEL, also in der politischen Boulevardpresse.

Sarrazin wiederum sollte bekannt sein – aber auch hier überrascht die Perspektive des Gewerkschafters:

Wenn man 4 Millionen Arbeitslose hat, aber nur eine Million offene Stellen, können drei Millionen machen, was sie wollen. Sie bekommen keine Beschäftigung. Sarrazin beschreibt das ganz treffend, dass sich z.B. niedrigqualifizierte Leute mit schlechten Sprachkenntnissen in diesem System einrichten müssen. So gesehen ist das Buch eine unbeabsichtigte massive Kritik an Hartz IV, denn es zeigt klar auf, zu was dieses Blutbad auf dem Arbeitsmarkt geführt hat. Ich würde heute einen Text zu Sarrazin mit der Überschrift aufmachen: „SPD schließt Hartz IV-Kritiker aus!“ Das ist das Tragische, dass Sarrazin nicht merkt, dass sein Text eine massive Kritik der Folgen der rot-grünen Arbeitsmarktpolitik 2003 bis 2006 darstellt.

Sarrazin als größter Kritiker der Agenda 2010 – wenn man es so sehen will, paßt es schon. Und das er es selber nicht gemerkt hat, paßt erst recht.

Der Großphilosoph wird ja nun vom Spiegel  nicht gerade mit Ruhm überschüttet, aber hat jetzt gerade dort einen Artikel geschrieben, dessen Zielrichtung man nur verstehen kann, wenn man vorher sortiert, hier aus dem Gespräch zwischen Heiner Geißler und Sloterdijk:

Geißler konstatiert „totale Unordnung“ auf der Welt – sozial, militärisch, ökonomischSloterdijk dagegen will über den geschichtlichen Fortschritt staunen, das „Wunderwerk“ der real existierenden Gesellschaft gewürdigt sehen und beklagt die „permanente schwarze Messe des Miserabilismus“.

Man merkt: der Großphilosoph hat seine Klientel fest im Auge, will Aufschwungphilosoph werden, oberster Denker der zehn Prozent, die dieses Land am Laufen halten:

Im vergangenen Sommer philosophierte er über einen „antifiskalischen Bürgerkrieg“, den „Semisozialismus“ des Steuerstaates – und forderte die „Abschaffung der Zwangssteuern“

Umso erstaunlicher sind die kritischen Töne, die er jetzt im Spiegel anschlägt:

Hat nicht der von Großbritannien ausgehende Diskurs über „Postdemokratie“, also der Gedanke, dass Bürgerbeteiligung durch die höhere Kompetenz politischer Spitzenentscheider eingespart werden kann, diskret die Parteizentralen und soziologischen Seminare in der westlichen Hemisphäre erobert? Sind nicht Unzählige schon wieder existentiell in Deckung gegangen, wie einst die antiken Stoiker und Epikureer, und haben sich darauf eingerichtet, dass Bürokratie, Spektakel und private Sammlungen jetzt die letzten Horizonte markieren?

Nun, die von ihm so skizzierte „Expertokratie“, der Traum der Herrschaft des Fachwissens über den Bürger, müßte dem Elitephilosophen und Philosophen der Elite ja eigentlich gefallen.  Die Tyrannei der alternativlosen Sachzwänge, die die Menschen in die epikureische Flucht in sinnliche Genüsse und stoische Teilnahmslosigkeit treibt, erkennt man in jeder politischen Debatte, wo man den Eindruck bekommt, der Politiker sei nur noch ausführendes Organ eines diffusen Weltgefüges, das ihn zwingt, wieder besseren Wissens und aller Vernunft irgendeinen Unsinn anzuordnen – wie z.B. Hartz IV.  Dies markiert natürlich das Ende der Demokratie, aber auf die haben die Bürger (wir berichteten) ja sowieso schon keine Lust mehr.

Das jedoch sieht der Großphilosoph anders, denn hier erkennt er auf einmal den Aufstand – oder bläst dazu:

Er ist wieder da, der Bürger, der empörungsfähig blieb, weil er trotz aller Versuche, ihn zum Libido-Bündel abzurichten, seinen Sinn für Selbstbehauptung bewahrt hat, und der diese Qualitäten manifestiert, indem er seine Dissidenz auf öffentliche Plätze trägt. Der unbequeme Bürger weigert sich, ein politischer Allesfresser zu sein, duldsam und fern von „nicht hilfreichen“ Meinungen. Diese informierten und empörten Bürger verfielen plötzlich, man begreift nicht wie, auf den Gedanken, den Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes auf sich selbst zu beziehen, wonach alle Staatsgewalt vom Volk ausgehe.

Es sind natürlich Elitebürger, die sich empören. „Informiert“ sollte man schon auch sein. Auch über Sloterdijk, wie ich finde.  Damit man weiß, wie es gemeint ist und auch weiß, das hier die gehobene Mittelschicht selbst zum Aufstand schreitet … oder schreiten soll, denn die epikureeische Flucht in die Sinnlichkeit setzt wie auch die stoische Genügsamkeit eine gewisse … finanzielle Grundausstattung voraus. Lustvoll auf das faule Obst der Tafel zu stürzen verschafft einem nicht die sinnlichen Genüsse, die man braucht, um die politische Wirklichkeit zu verdrängen.

Wird die Frage gestellt, wie das breite Volk auf die Performance der Regierenden reagiert, verzeichnen Meinungsforscher seit einiger Zeit am häufigsten die Auskunft: mit Verachtung.  … Wenn die Bezeichnung für den Minuspol der Stolz-Skala so häufig und so heftig gebraucht wird wie zur Stunde, dürfte begreiflich werden, in welchem Maß die psychopolitische Regulierung unseres Gemeinwesens aus dem Ruder läuft.

Und wenn die „psychopolitische“ Regulierung unseres Gemeinwesens aus dem Ruder läuft, dann brauchen wir … neue Steuermänner. Neue Führer braucht das Land, die dann die Masse psychopolitisch (ein Begriff, der übrigens aus dem Dunstkreise rechtsextremer Verschwörungstheoretiker kommt) wieder mit Brot und Spielen (mit neuem Brot und neuen Spielen)  ruhig stellt und dann mittels gentechnischer Selektion, gezielter Menschenzüchtung und sozialer Aussonderung ein ganz neues Deutschland schafft.

Toll.

Die meisten heutigen Staaten spekulieren, durch keine Krise belehrt, auf die Passivität der Bürger. Westliche Regierungen wetten darauf, dass ihre Bürger weiter in die Unterhaltung ausweichen werden; die östlichen wetten auf die unverwüstliche Wirksamkeit offener Repression. Die Zukunft wird bestimmt sein vom Wettbewerb zwischen dem euro-amerikanischen und dem chinesischen Modus der Bürgerausschaltung. Beide Verfahren gehen davon aus, man könne das Aufklärungsgebot der Repräsentation von positivem Bürgerwillen und gutem Bürgerwissen im Regierungshandeln umgehen, indem man weiter mit hoher Bürgerpassivität rechnet.

Auch ohne divinatorische Begabung kann man wissen: Dergleichen Spekulationen werden früher oder später zerplatzen, weil keine Regierung der Welt im Zeitalter der digitalen Zivilität vor der Empörung ihrer Bürger in Sicherheit ist. Hat der Zorn seine Arbeit erfolgreich getan, entstehen neue Architekturen der politischen Teilhabe. Die Postdemokratie, die vor der Tür steht, wird warten müssen.

Die Postdemokratie – ist jedoch längst da. Die war – laut Jaspers – schon Mitte der sechziger Jahre erkennbar.  Dort, wo der Bürger Souverän sein soll, braucht er auch wirtschaftliche Souveränität – niemals käme jemand auf die Idee, die Queen von England zur ARGE zu schicken.  Ohne ein bedingungsloses Grundeinkommen wird es keine Demokratie geben … und für die Mehrheit keinen Grund, sich zu engagieren. Es ist die Sicht des wohlversorgten Bürgertums, das verkennt, das der Staatsphilosoph auch nur ein Hartz IV-Aufstocker ist … allerdings auf XXL-Niveau.

Seine Sorge über die Bürgerausschaltung und ihre Methoden jedoch schätze ich hoch, ebenso seinen Mut, dies offiziell zu äußern. Es zeigt, wie sehr auch dem wohlversorgten Mittelstand das Wasser bis zum Halse steht und wie sehr er hofft, es möge „etwas“ geschehen, um die Flut aufzuhalten.

Die Flut jedoch – wird gesteuert. Sie ist kein Naturereignis.  Es sind konkrete Menschen, die in konkreten Netzwerken an dem Umbau der demokratischen Gesellschaften arbeiten, im Dienste der Korporatokratie bzw. der Konzerninteressen – und dort verdient auch der „informierte“ Mittelstand sein überdurchschnittliches Gehalt, jener Mittelstand, der aufgrund seiner Bildung wissen müßte, das „Information“ immer auch „Manipulation“ ist – eine Grunderkenntnis der Psychopolitik. Der von Sloterdijk so beschworene „Zorn der Bürger“ ist also nur für ganz wenige Mittelschichtler von Interesse – für jene zum Beispiel, die staatlicherseits noch alimentiert werden und noch keinen sicheren Futtertrog im Konzernnetzwerk bekommen haben.

Es ist auch nicht die Sorge um die Demokratie, die die Bürger umtreibt – sondern die klare Erkenntnis, das die Plätze an den Futtertrögen rarer werden.  Ein aktuelles Beispiel? Manager-Magazin:

Die deutsche Wirtschaft wächst so schnell wie zuletzt im Boom nach der Wiedervereinigung. Nach dem Exportmotor springt endlich auch die inländische Nachfrage an. Als Konjunkturlokomotive für Europa zieht Deutschland jedoch nur einen einzigen Waggon. Das könnte sich noch rächen.

Das hört sich noch gut an. Der Bildungsbürger jedoch liest weiter und erkennt … Erschreckendes:

Europa insgesamt steht damit sogar noch etwas schlechter da als die USA, wo das schwache Wachstum derzeit für Stimmung wie in einem Katastrophengebiet sorgt. Selbst die Niederlande, die mit ihrer ebenfalls exportlastigen Wirtschaft sich bislang meist synchron zur deutschen Konjunktur entwickelten, fielen im Sommer zurück. Das Centraal Planbureau, die niederländische Wirtschaftsbehörde, meldete einen Rückgang des BIP um 0,1 Prozent statt des von Volkswirten erwarteten 0,5-prozentigen Wachstums.

Wenn es Europa schlechter geht als den USA, dann … na ja. Kann man sich denken, wie es um unseren Aufschwung wirklich bestellt ist – ungefähr genauso, wie um den Aufstand.  Und wie es weitergeht? Ich denke, Sloterdijk beschreibt genug Paralellen zwischen dem spätrömischen Dekadenzreich und unsere erfahrbaren Wirklichkeit, das man sich das selber denken kann.  Aber bis es soweit ist, kann man sich ja den Programmen der Bürgerausschaltung ergeben – Bierbauch, Fußball und Porno gucken.  Das wird ja jetzt auch Staatsziel.



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