Es ist immer schwierig, über Ereignisse zu urteilen, bei denen man nicht selbst anwesend war – Beispielsweise den Alltag im Dritten Reich. Vielen ging es da prima – bevor der Krieg ausbrach. Man hatte ja Aufschwung.
Weniger weit entfernt als der Völkermord im Dritten Reich ist – zeitlich gesehen – der Völkermord in Ruanda. Ich versucht, zu ergründen, was dort geschehen ist – weil ich es noch grausamer empfinde als die Morde im Dritten Reich … falls man so gesehen überhaupt eine „Hitliste“ aufstellen kann. Die beschriebenen Todesarten … lassen ein KZ fast als einen sozialromantischen Ort erscheinen. Aber auch nur fast … und nur in jenem engen Vergleichskanon. Stalinismus war auch grausam, aber kein Vergleich zu Konzentrationslagern – was Stalinismus auch nicht besser oder angenehmer macht.
Wie so etwas geschehen kann, wie es kommen kann, das Ärzte ihre Patienten töten, Nachbarn kleine Kinder und alte Leute zerhacken und noch lebendig ohne Arme und Beine als Fraß für die Hunde übriglassen, das Schüler ihre Lehrer niedermetzeln, Pfarrer ihrer Gemeinde und umgehrt, bleibt für Aussenstehende ein Rätsel – ein Rätsel jedoch, mit dem man sich gerade in Deutschland beschäftigen muß, denn gerade hier kann man nicht sagen: bei uns würde so etwas nicht passieren.
Stimmt, so etwas nicht. Wir wählen Gas statt Ameisen und Hunden.
Immaculée Ilibagiza hat die Massaker überlebt: drei Monate lang in einer winzigen Toilette mit sieben anderen Frauen versteckt, beständig die Schreie der Opfer und Todesschwadrone im Kopf. Ihre Erlebnisse hat sie in einem Buch veröffentlicht, das als „Aschenblüte“ 2008 bei Ullstein erschienen ist. Sie glaubt zu wissen, wie es anfing: Völkermord beginnt im Kopf, sagt sie.
Na ja, wo auch sonst. Sie hat eine eigene Internetseite, arbeitet inzwischen in New York, lefttotell heißt sei.
Ihre Geschichte ist eine sehr religiöse Geschichte, deshalb für Atheisten nicht geeignet. „Im Schützengraben gibt es keine Atheisten“ heißt ein geflügeltes Wort und bei der Lektüre dieses Buches konnte ich mich der Frage nicht erwehren, wieviel Trost, Hoffnung und Glück wohl der Glaube an Darwin und Marx gebracht hätten. Ich schätze mal, das der Austausch von Religion durch Dogmatik hier keine Vorteile bringen würde. Man merkt: Atheismus ist was für reiche weiße satte Leute in Europa.
Völkermord beginnt im Kopf, sagt Immaculée … und bemerkt die Versuchung bei sich selber. Nicht nur Gott ist bei ihr in der Isolationshaft sondern auch der Teufel.
Es ist – angesichts der Bestialität von Menschen – ein leichtfertiger Schritt zu sagen: der war vom Teufel besessen, erst recht, wenn am Vorabend der Massaker international bekannte Seherinnen von Leichenbergen und drohendem Unheil sprechen und sich ein „gelblich-schmutziger“ Schatten im Licht versteckt. Reiche weiße satte Menschen urteilen hier sehr schnell und sehr leicht: alles Humbug! – aber wenn man nicht das Glück hat, als Wohlstandsblase geborgen in sicheren vier Wänden die Realität nur noch über den Bildschirm erleben zu dürfen, dann kann man sich diesen nicht Luxus leisten.
Eingeschlossen in einer winzigen Toilette mit tobenden Mördern vor der Tür, die einen jeden Moment aufspüren können, geht das schlechter, wenn man verarbeiten muß, das der liebe nette immer korrekt gekleidete Nachbar gerade mit der Machete durchs Haus rennt und brüllt, das er schon 399 Kakerlaken erledigt hat und aus Immaculée gerne die Vierhundertste machen möchte. Leichter ist es, wenn man sich sagen kann: da hatte der Teufel die Hand im Spiel. Erst recht ist es leichter, wenn man selbst auch seine verlockende Stimme vernommen hat. Immerhin … man wird irgendwann mit den Tätern wieder Tür an Tür leben müssen. Das muß man irgendwie hinbekommen. Das erleichtert die Vorstellung, das kurzzeitig tausend Teufel in die Menschen gefahren sind … beziehungsweise, das die Menschen den Teufel in sich hineingelassen haben. Da wird schon fein differenziert und keine neuesoterische Verantwortungslosigkeit gepredigt.
Völkermord beginnt im Kopf – bei jedem einzelnen. So einfach ist er aufzuhalten – und so leicht ist er zuzulassen. Daran mußte ich heute denken, als ich diesen Artikel in der Welt las:
Sozialromantik verhindert die Vollbeschäftigung
Weniger als drei Millionen Arbeitslose, dieser Erfolg ist auch Schröder zu verdanken. Umso wichtiger, dass von der Leyen Hartz-IV nicht ausbaut.
Hartz IV ist nur ein erster Schritt im Kopf. Unwertes, minderwürdiges Leben wurde definiert. Das war keine Kleinigkeit – noch sonderlich lustig. Arbeitslosigkeit wurde Straftatbestand, im Extremfall wurde der Tod des Kunden billigend in Kauf genommen – wenn ich die Gesetzgebung mal ganz PRAGMATISCH und nicht ROMANTISCH betrachte.
Asoziale Pragmatiker haben ihre Prinzipien in Wirklichkeit umgesetzt – Arbeit macht wieder frei. Zumindestens frei von der ARGE.
Auf der Ebene der Prinzipien stehen alle Figuren bereit für Völkermord. Die Frage ist, ob sie gezogen werden.
Man sagt (sowohl in Afrika als auch in Mexiko) der größte Schutz des weißen Mannes vor bösen Geistern ist sein Unglaube. Diane Fossey sah das anders. Noch in den USA bekam sie Panik, wenn jemand an ihre Haare oder abgeschnittenen Fingernägel ging – die Angst vor dem, was Hexer mit diesem Material anstellen können, saß ihr nach vielen Jahren Ruanda tief in den Knochen – so Phillip Gourevitch in seinem Buch: „Wir möchten Ihnen mitteilen, daß wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden – Berichte aus Ruanda“, erschienen 1999 im Berliner Taschenbuchverlag.
Völkermord ist unchristlich, so sagt man. Doch gegen den Völkermord stehen hier „heilige Männer“, die Kanonen segnen, Hexen verbrannten, Juden verfolgten und dem Führer als „ihrem Führer“ zum Geburtstag gratulierten. Die werden schneller umfallen als Kegel beim Bowling und mit Sicherheit vor keinem Teufel schützen.
Die Prinzipien, die die Hartz-IV-Gedanken tragen, werden weitere Folgen haben. Erst gestern habe ich die neuen Wünsche der Täter entdeckt: man will an die Krankenversicherung. Die ist in der Tat auch sozialromantisch (bzw. kommunistisch), ebenso wie die Rentenversicherung, die wohl als letzter Punkt geknackt wird. Und dann … aber auch erst dann … geht das große Sterben los. Zu schlimm gedacht? Man kann vor Völkermord nicht oft genug warnen. Lieber tausendmal umsonst gewarnt als wieder einmal zu spät reagiert.
Völkermord beginnt im Kopf … das versteht man hoffentlich auch, wenn man nicht an Teufel glaubt. Man braucht die Teufel nicht hineinlassen … sollte man denen ins Gebetbuch schreiben, die an ihn glauben.
Bekämpft man ihn im Kopf – ist er schnell erstickt. Ein Streichholz ist schneller gelöscht als ein Waldbrand.
Bekämpft man ihn zu spät … kann man wieder nur kopfschüttelnd vor den Leichenbergen stehen und sagen: Wir müssen dafür sorgen, das das nie wieder passiert.
Das haben wir schon mal gesagt – 1945. 1994 stand die UN dann in Ruanda und … mußte ein „schon wieder“ einräumen. Es war nicht das erste Mal seit dem zweiten Weltkrieg, das so etwas geschah – aber es war eine neue Qualität an Systematik, Perfektion und Grausamkeit.
Und wer meint, mit Marx und Darwin in der Hand wäre man geschützt vor Volkermord, „guten“ Linken würde das nicht geschehen … er sei an die Roten Khmer erinnert, hier im „Spiegel“
Etwa zwei Millionen Menschen, ein rundes Drittel der Bevölkerung Kambodschas, wurden zwischen April 1975 und Januar 1979 von den Steinzeit-Marxisten der Roten Khmer abgeschlachtet, vor allem Lehrer, Ärzte, Mönche, Professoren. Diktator Pol Pot, der „Bruder Nr. 1“, und sein Komplize Ta Mok, als der „einbeiniger Schlächter“ berüchtigt, wollten eine wahnwitzige Vision verwirklichen: Die uralte Kulturnation sollte gewaltsam auf die „Stunde Null“ zurückgedreht werden, um dort anschließend ein agrarisches Utopia zu schaffen – eine Gesellschaft ohne Intellektuelle, Bürgertum oder Technik, ausgerichtet nur an den Grundbedürfnissen.
Völkermord geht auch mit den besten Absichten. Eigentlich sind so richtig gute und vor allem alternativlos richtige Grundsätze immer der erste Schritt zum Völkermord. Das meint ja kein Täter wirklich böse. Meistens ist man ja selbst edler Kreuzritter und die anderen sind heidnische unbelehrbare Barbaren oder schmarotzende Arbeitslose oder uneinsichtige „Andere“, die entweder unreligiös oder religiös oder falsch religiös sind … oder einfach nur unnütze Esser.
Nun, wir wissen um die Prinzipien der Gewalt – jedenfalls um einige. Wir brauchen keine Teufel um zu verstehen, wie sie funktioniert, das zeigt erst jetzt wieder eine Studie im Spiegel:
„Wenn man die Ursachen von Gewalt angehen möchte, ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass Kinder nicht Gewalt oder Diskriminierung ausgesetzt werden“, betonte Kjaerum. Eine Politik gegen Jugendkriminalität oder gegen den Terrorismus müsse daher alltägliche Situationen der Ausgrenzung junger Menschen bekämpfen.
Darf ich dann der Regierung der Bundesrepublik Deutschland die Vorbereitung eines Völkermordes oder die Unterstützung bzw. Züchtung von Terrorismus vorwerfen, wenn ich die Ergebnisse dieser Studie mit der Hartz-Gesetzgebung für Kinder abgleiche?