Geisteswissenschaft

Innerdeutsche Kontroversen – Zum 20. Juli

Von hier aus gelangen Sie auf die Autorenseite von und koennen alle kommenen Artikel mit "Link speichern unter" abonieren.

(Auszug aus der akademischen Arbeit “Folgen der unterschiedlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der DDR und der alten Bundesrepublik: am Beispiel Gedenkstättenpolitik” von André Tautenhahn)

 

Der konservative Widerstand

Im Westen ging es vorrangig um die Aufnahme des konservativen Widerstands in einen freiheitlich patriotischen Grunddiskurs, hinter dem sich die Deutschen stellen konnten und der das Bild eines anderen Deutschlands widerzuspiegeln vermochte. Der Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR wurde deshalb als willkommenes Ereignis begangen – sogar als späterer Bruder des 20. Juli 1944 tituliert.[1] Beide Ereignisse ließen sich so auf der Grundlage des Widerstandes gegen eine totalitäre Diktatur instrumentalisieren und verbinden.

Für den Westen Deutschlands war die Identifikation mit dem Widerstand während des Nationalsozialismus ein Akt der Kompensation in Bezug auf die Last, die von der Kollektivschuldthese ausging. Hierbei wird aber ausschließlich von den Widerstandskämpfern des 20. Juli gesprochen, der Gruppe um den Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Diese hatten versucht an besagtem Datum 1944 Hitler durch ein Attentat zu töten und die Macht in Deutschland zu übernehmen. Die Verschwörer taten das aber nicht, weil sie den Nationalsozialismus per se ablehnten, sondern die Realität einer in die militärische Katastrophe mündenden Kriegsführung erkannten. Des Weiteren fürchteten sie nach dem Staatsstreich innere Unruhen und Aufstände seitens der vielen unter Zwang verpflichteten Fremdarbeiter. Stauffenberg selber wurde erst spät zum Gegner Hitlers. Nach den anfänglichen Kriegserfolgen hatte er durchaus Sympathie für den Diktator übrig. Das änderte sich erst mit dem Überfall auf die Sowjetunion und der dort praktizierten verbrecherischen Kriegsführung. Der staatliche Umsturzversuch mit dem Namen Operation Walküre sollte aber nicht dazu führen, die parlamentarische Demokratie wieder zu errichten. Das lehnten die aus konservativen Kreisen des Bürgertums, Adels und Militärs stammenden Verschwörer kategorisch ab.

Das Attentat im Führerhauptquartier Wolfsschanze bei Rastenburg in Ostpreußen misslang. Daraufhin scheiterten auch die Verschwörung und die Operation Walküre, durch die der Staatsstreich an den Schaltstellen der Macht umgesetzt werden sollte. Noch in der Nacht zum 21. Juli 1944 wurden Stauffenberg und weitere Offiziere auf dem Hof des Berliner Bendlerblocks standrechtlich erschossen.

Der Widerstand war ein politisch motivierter bzw. „eine späte Reaktion auf die sich verschlechternde Lage im „Dritten Reich“.“[2] Das sah man in der jungen Bundesrepublik allerdings anders, und den Widerständlern vom 20. Juli schrieb man eine große geschichtliche Bedeutung zu, obwohl sie in der Bevölkerung lange Zeit als Verräter angesehen wurden. „Was diese Menschen wollten, war die Freiheit und die rechtliche und soziale Ordnung des Lebens. Sie haben es nicht erreicht: aber sie haben die Ehre des deutschen Volkes vor der Welt für immer gerettet.“[3]

Der Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime war jahrzehntelang Gegenstand innerdeutscher Kontroversen. Dabei war weniger die Tatsache der Beseitigung Hitlers durch seine Gegner von herausragender Bedeutung, „sondern mehr der sekundäre Zweck ihres Tuns, ihre programmatischen Vorstellungen für die politischen Verhältnisse im Deutschland nach Hitler.“[4]

Für den Westen Deutschlands war das insofern wichtig, da in der Bevölkerung offensichtlich die Meinung vorherrschte, dass der Nationalsozialismus an sich auch gute Seiten hatte. Wenn man den zahlreichen Umfragen und statistischen Erhebungen der Zeit folgt, werden die fortexistierenden Identifikationen durchaus deutlich. Das Umfrageinstitut Allensbach hatte gezielt versucht, die Stimmung in der Bevölkerung festzuhalten. Die empirischen Erhebungen, die in der Frühphase der Republik getätigt wurden, zeigen, dass die Befindlichkeiten der Bevölkerung gegenüber dem neuen Staat eher skeptischer Natur waren. So hielt sich der Zuspruch zur Gründung eines Weststaates 1949 in Grenzen. Laut Allensbach sprachen sich dafür 51% der Befragten aus.[5] 40% der Befragten war die neue Verfassung gleichgültig, während 33% teilweise ihr Interesse daran bekundeten. Bei der Frage der Machtverteilung votierten 41% für die Position eines starken Präsidenten an der Spitze des Staates, während 23% der Befragten ein eher stärkeres Parlament bevorzugten. Weitere Detailfragen scheinen die These von einem Kontinuitätsfaktor zu untermauern. Eine der bekanntesten Fragen ist die, über das Befinden der Deutschen in den zurückliegenden Perioden der eigenen Geschichte. So benannten 1951 80% der Befragten den Zeitraum der Besatzung von 1945 – 1948 als jenen, in dem es dem Land am schlechtesten ging. Umgekehrt antworteten 45%, dass es in der Kaiserzeit am besten um Deutschland stand; 40% hielten gar das Dritte Reich vor Beginn des Zweiten Weltkrieges für die angenehmere Zeit, während nur 7% die erste deutsche Republik in den Jahren zwischen 1920 und 1933 als positiv empfanden. Ähnlich verhielt es sich bei der Frage zur Staatsform, bei der sich 32% der Befragten 1951 für eine Monarchie mit einem König oder Kaiser an der Spitze aussprachen, wohingegen 36% dies ablehnten. Als größter deutscher Leistungsträger wurde Bismarck mit 35% gewählt, Adolf Hitler kam gar mit 10% der Stimmen auf Platz 3, während der aktuelle Bundeskanzler Konrad Adenauer mit 3% abgeschlagen auf einem der hinteren Ränge rangierte.

Den Eindruck eines zögerlichen Trends, sich vom Nationalsozialismus kritisch zu distanzieren, unterstrichen die Ergebnisse weiterer Umfragen, die bei jüngeren Generationen durchgeführt wurden (Jahrgänge 1929 – 1938). Zwar erklärten 1953 71% aller Befragten, dass man die jetzige Staatsform gegen Angriffe verbal verteidigen würde, 37% aber fänden eine autokratischere Regierungsform angemessener. Demokratie und Pluralismus wurden scheinbar erst langsam als positive Errungenschaften anerkannt, Mitte der 1950er Jahre war man dann davon überzeugt, dass das nationalsozialistische Regime, nicht aber das deutsche Volk, Schuld an der verheerenden Kriegskatastrophe tragen würde.

Form der Wahrnehmungsabwehr

Wenn man aus diesen Ergebnissen bloße ideologische Kontinuität erkennen würde, macht man es sich zu einfach, da die Vorstellung eines Schlussstriches unter die Vergangenheit dem gegenüberstünde. Vielmehr weisen sie darauf hin, dass das Geschehene psychisch noch nicht bewältigt worden ist. Denn der Schlussstrich-Gestus setzt die Bereitschaft zu einem bewussten Vergessen voraus, das der Abwehr von Erinnerungen dient.[6] Und hier liegt im Grunde ein Anknüpfungspunkt, an dem sich die Frage nach den Verhältnissen stellen lässt. Denn mit dem Zusammenbruch des Hitler-Reiches, in dem der kollektive Narzissmus durch die Überhöhung nationaler Eitelkeit gesteigert wurde, musste am Ende auch die kollektive Identifikation zerbrechen. Nach Freud hätte diese Erschütterung zur Panik der Masse führen müssen, was aber nicht geschah.[7] Das bedeutet zum einen, dass die Massenpsychologie bezogen auf die Bedingungen des Nationalsozialismus ihre Grenze erfährt. Zum anderen auch, dass der kollektive Narzissmus fortbesteht und „darauf lauert, repariert zu werden.“[8]

Theodor W. Adorno formuliert die These, dass der Faschismus eben kein psychologisches Problem darstellt, da die Grundlage der Erklärung auf der Ideologie des Faschismus selbst basiert. Der Faschismus beschreibt konkret ein psychologisches Feld, das zum Zwecke wirtschaftlicher und politischer Interessen unterstützt und initialisiert wird. Und diese Interessen entstehen aus ganz unpsychologischen Motiven heraus. D.h., dass spontane Triebe und Instinkte nicht maßgeblich für die Entstehung der faschistischen Masse sind, sondern durch bewussten Gebrauch der Psychologie in ein System der Beherrschung umgewandelt werden. Ziel der Nationalsozialisten war demnach nicht die bloße Agitation bzw. Verführung der Massen, sondern die Kontrolle der Institutionen zu erlangen, mit denen sich auch die Herrschaft über die Massen steuern ließ.[9]

Über die gesamte Dauer der Weimarer Republik ist es den Nationalsozialisten nicht gelungen, eine mehrheitsfähige Masse hinter sich zu versammeln. Im Gegenteil, bei der Wahl zum 7. Reichstag am 6. November 1932 verlor die NSDAP rund zwei Millionen Stimmen gegenüber dem Urnengang vom Juli des gleichen Jahres.[10] Hitler benötigte daher die Institutionen der Republik sowie das Einverständnis, der für die Republik stehenden und handelnden Personen, um sich an die Spitze des politischen Apparates zu stellen und später auch die Kontrolle über den Staat zu übernehmen. Erst die bewusste Ernennung Hitlers zum Reichskanzler unter der Strategie der Einrahmungspolitik von Papens und später das Ermächtigungsgesetz, durch dass sich die Legislative selbst ausschaltete, ist es möglich geworden, diese Kontrolle über die staatlichen Institutionen unter dem Schein der Legalität zu erhalten.

Die Psychologie der Massen wurde in den Händen Hitlers zu einem bewussten Instrument eines Beherrschungssystems. Dadurch beraubte man sie gleichzeitig ihrer Existenz, und Freud bildete mit seinem Werk quasi den Abschluss der Psychologie. Mit der faschistischen Masse bekommt die Inszenierung größere Bedeutung. Die psychologischen Prozesse bilden nicht mehr den Kern der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Menschen nehmen an dem Theater teil und erreichen auch hier eine Befriedigung ihrer Triebbedürfnisse. Adorno spricht in diesem Zusammenhang von einer ferngesteuerten Regression, die jederzeit erkannt und zerstört werden kann.[11]

Als Folge dieses Prozesses setzt eine Form der Wahrnehmungsabwehr ein, die Adorno als einen Mangel an Affekt gegenüber dem Ernstesten beschreibt.[12]

„Verblendung setzt sich hinweg über das schreiende Missverhältnis zwischen höchst fiktiver Schuld und höchst realer Strafe. Zuweilen werden die Sieger zu Urhebern dessen gemacht, was die Besiegten taten, als sie selber noch obenauf waren, und für die Untaten des Hitler sollen diejenigen verantwortlich sein, die duldeten, dass er die Macht ergriff, und nicht jene, die ihm zujubelten.“[13]

Die unmittelbare Vergangenheit wird verharmlost und unter dem Begriff des Schuldkomplexes als etwas Krankhaftes interpretiert, das weniger mit Schuld denn mit seelischer Belastung zu tun habe. Damit aber, würde die Erinnerung an das Verbrechen zu einer Einbildung zurückgestuft, die schlussendlich zu einem Gegenstand von Therapie werden kann. „Es gehört zum psychologischen Missbrauch der Psychoanalyse, unter der auf therapeutische Zwecke gemünzten Devise »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten« das nationalsozialistische Verbrechen zu bearbeiten, als ob das Individuum allein Auschwitz als Teil seiner Lebensgeschichte fassen könnte.“[14] Diesem Ausdruck von Ohnmacht dem Geschehenen gegenüber, der die Gefahr des Verlusts des Gedächtnisses in sich birgt, hält Adorno den neuen kategorischen Imperativ entgegen, „Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“[15]

Die von Adorno beschriebene Affektsperre und der später von Hannah Arendt formulierte Gefühlsmangel als das „auffälligste äußere Symptom“[16] der Weigerung sich der nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen, findet sich bei den führenden Personen des neuen bundesrepublikanischen Staatsapparates wieder. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit erfuhr dadurch als Zeichen der Wahrnehmungsabwehr auch gesellschaftlich eine Blockierung.[17]

Folgen des Widerstandsdiskurses

In diesem Zusammenhang wurde die in Westdeutschland der Fünfziger Jahre aufkommende Huldigung des nationalsozialistischen Widerstands um die Verschwörer vom 20. Juli kritisiert und „nur als Randbemerkung zur Geschichte des Nazismus verstanden, weil dieser für den Verlauf des Holocaust keinerlei Relevanz hatte.“[18]

Dies galt für den Westen wie auch den Osten Deutschlands, da beide Systeme den Rückhalt in der Geschichte des deutschen Widerstandes suchten. In der DDR war es aber nicht die Verschwörung vom 20. Juli. Sie wurde nicht als ein Befreiungsversuch von der Tyrannei des Hitler-Regimes interpretiert, sondern dem Wesen nach als eine Fortführung des imperialistischen, antikommunistischen Kurses verstanden.[19] Aber auch die Westalliierten stießen sich an der Gruppe um Stauffenberg, da die Aktion zu spät, erfolglos und von Offizieren durchgeführt wurde, die maßgeblich am Aufstieg des Nationalsozialismus mitgewirkt hatten.[20] In der Bundesrepublik aber sorgte die Auseinandersetzung mit dem Widerstand gegen Hitler für die Schaffung eines neuen Politikfeldes, das sich in Form der Geschichtspolitik auf jeweils gegenwartsbestimmte Deutungen verstieg.[21] Dies wiederum fand Eingang in die Gestaltung erster Gedenkstätten auf westdeutschen Boden, die sich mit dem Thema des Widerstandes auseinandersetzten. Unter dem Begriff „Frieden und Freiheit“ wurde die Bedeutung des Widerstandes z.B. im Bendlerblock demonstriert. Dabei sollte aber auch eine Form geistiger Verwandtschaft zum 17. Juni 1953 dokumentiert werden.[22]

Jedoch mussten die Verschwörer vom 20. Juli 1944 vom Stigma des Verrats erst befreit werden, da in der deutschen Öffentlichkeit der Widerspruch zwischen Führereid und Treuebruch als Landesverrat verstanden wurde. Die neonazistische Sozialistische Reichspartei unter ihrem damaligen zweiten Vorsitzenden Otto Ernst Remer hatte öffentlich die Verschwörer vom 20. Juli als vom Ausland bezahlte Landesverräter bezeichnet. Dies nutzte der Braunschweiger Generalstaatsanwalt Fritz Bauer zu einer Anklage wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener. Dabei ging es Bauer aber weniger um die Person Remer, als um die Chance, dass NS-Regime auch juristisch als Unrechtsstaat zu charakterisieren.[23]

In Bezug auf die Fragen nach Wiedergutmachung rückte der Widerstand in eine besondere Perspektive. Da auch diejenigen, die gegen das NS-Regime Widerstand leisteten, aus politischen, religiösen oder moralischen Gründen, einen Anspruch auf Entschädigung zugesprochen bekamen. Dabei war das Bundesentschädigungsgesetz von 1953 aber einschränkend gegenüber Opfern aus den Reihen des kommunistischen Widerstands.

In der Öffentlichkeit war der kommunistische Widerstand anfänglich kein großes Thema. Eher wurde unter dem Eindruck des 17. Juni 1953 versucht, „die polarisierenden Effekte zu überspielen und diesen Gedenktag für die innere Aussöhnung und Integration zu nutzen.“[24] Insofern zählten aus westdeutscher Sicht Personen und Gruppen aus allen sozialen Schichten zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Ende der nationalsozialistischen Diktatur wuchs auch die öffentliche Erinnerung an den Widerstand, obwohl in der Bevölkerung noch immer der Vorwurf des Landesverrats mitschwang. Vor allem in der neu gegründeten Bundeswehr fanden die Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 ihre Würdigung, trotz der sich damit verschärfenden Widersprüchlichkeit innerhalb der militärischen Tradition. Viele Kasernen tragen noch heute die Namen von Mitgliedern der Gruppe um Stauffenberg und dokumentieren somit den politischen Willen, trotz des Bruchs mit der Befehlsgewalt, das gescheiterte Attentat nicht als Betriebsunfall anzusehen, sondern als Bestandteil deutscher Militärgeschichte. Damit wurde ein ambivalentes Bild in der Öffentlichkeit vertreten. Auf der einen Seite wurden die Soldatenopfer geehrt, die im Zuge ihrer Pflichtausübung in der Wehrmacht ihr Leben ließen und zum anderen fanden Gedenkfeiern statt, die den Versuch der Beseitigung der militärischen Führung im Dritten Reich würdigten.[25]

Diese Widersprüchlichkeit zwischen Widerstand einerseits und Gehorsam andererseits führte in der politischen Auseinandersetzung dazu, dass man sich darum stritt, ob das deutsche Volk den Willen zu einer freiheitlichen Demokratie allein aus sich heraus hätte aufbringen können. Gustav Heinemann betonte als Bundespräsident die Tatsache, dass die Ursachen des Nationalsozialismus sehr viel tiefgründiger seien, als es einfache Erklärungsansätze wie Massenarbeitslosigkeit oder Belastungen durch den Versailler Vertrag darstellten. In seiner Rede zum 25. Jahrestag des gescheiterten Hitlerattentats beschönigte der Bundespräsident daher nichts. Der Hitler-Mythos hätte nach dem Zusammenbruch weiter bestanden. „Geblieben wäre eine wütende Anklage, dass die Attentäter uns um den Sieg und um die Herrlichkeit des Großdeutschen Reiches gebracht hätten. [26] Für Heinemann bot auch die eigene persönliche Lebensgeschichte Anlass zu einem selbstkritischen Bekenntnis. „Mich lässt die Frage nicht los, warum ich im Dritten Reich nicht mehr widerstanden habe“[27]

Ganz anders aber das Auftreten des ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, der in seiner Funktion als amtierender Bundesratspräsident 1974 anlässlich des Gedenktages die gesellschaftliche Isolation der Verschwörer ablehnte. Vielmehr stellte er fest, dass das deutsche Volk sehr wohl gegen das Hitler-Regime gewesen sei. Damit wurde die historische Rolle des gescheiterten Attentats Bestandteil kontroverser Geschichtsdebatten, die im Schatten des Politischen stehen.[28]

„Der Historiker selbst, obwohl er sich mit dem Thema wissenschaftlich befasst, übt relativ wenig Einfluss auf den Verlauf der Diskussion aus, weniger als Politiker, Medien oder Lehrer, solange er nicht selbst Teil der politischen Diskussion geworden ist, wie z.B. Ernst Nolte.“[29]

Nach und nach wurde das bei dem öffentlichen Umgang mit dem Widerstand immer deutlicher. Im Westen kam zu der Frage, ob die Deutschen mehrheitlich gegen das oder ohnmächtig für das Hitler-Regime gewesen seien, die Verurteilung des kommunistischen Widerstands im Dritten Reich. Der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner verzichtete nach massiver Kritik an seiner kommunistischen Rolle im nationalsozialistischen Deutschland auf eine Teilnahme an der Gedenkfeier zum 35. Jahrestag des Hitler-Attentats 1978. In der politischen Debatte wurde der kommunistische Widerstand im Dritten Reich als Programm einer anderen totalitären Diktatur verstanden und verurteilt. Das führte vor allem dazu, dass sich der politische Streit um die Würdigung des 20. Juli 1944 verschärfte. Waren es doch jene Politiker aus der CDU, die sich im Falle Wehner auf das heftigste zu Wort meldeten, bei der Filbinger Relativierungsrede es aber vorzogen, zu schweigen. [30]

In der Analyse wird erkennbar, dass der Nationalsozialismus und der Widerstand als geschlossenes System verstanden wurden, aus dem heraus, sich die eigene Identität abbilden ließ. Letztlich ging es um die politische und moralische Frage,

„wer der eigentliche Erbe des Nationalsozialismus war: DDR und Bundesrepublik warfen sich gegenseitig vor, die NS-Diktatur fortzuführen – für die DDR lebte der Faschismus in der Bundesrepublik fort, für die Bundesrepublik herrschte der Totalitarismus in der DDR weiter.“[31]

Dabei verlor der Widerstandskomplex an Schärfe. Sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik. Der jüdische Widerstand fiel auf beiden Seiten lange Zeit unter den Tisch oder wurde als Sonderthema unter der Rubrik Juden bearbeitet. Damit wurden die Juden wieder zu Objekten gemacht, die sich in dem politischen Diskurs des Kalten Krieges als Gegenstand zweckorientierter Argumentation wieder fanden. Ihnen wurde auf Seiten der DDR erst in den späten achtziger Jahren eine verstärkte Aufmerksamkeit zu Teil, da die Ost-Berliner Staatsführung auf eine höhere Akzeptanz in der westlichen Welt, insbesondere den USA, abzielte. Bis dahin galten die Juden in der DDR als Opfergruppe zweiten Ranges bzw. als Menschen jüdischen Glaubens, deren Leidensgeschichte nicht zum Antifaschismuskonzept der DDR passte.[32]

Dieses Konzept basierte nun auf dem Selbstbild der DDR, der einzige der beiden deutschen Staaten gewesen zu sein, der die richtigen Konsequenzen aus der nationalsozialistischen Katastrophe gezogen hat. „Daher lehnte sie (die DDR, Anm. d. Verf.) auch jegliche Haftungspflichten für die Vergangenheit ab.“[33] Der Antifaschismus galt als einzige unangreifbare Existenzberechtigung der DDR. Die führende Elite gehörte zu den verfolgten Kommunisten in der Weimarer Republik, und sie galten ebenso als politische Gegner des NS-Regimes. Diese Erfahrung projizierten sie auf die neue Gesellschaft der DDR. Das hatte zur Folge, dass diese Art der Verordnung es den Menschen in der DDR ermöglichte, „geschwind auf die Seite des «anderen» Deutschland überzutreten. Diese Bekenntnisideologie bedeutete somit für viele ein attraktives Angebot: Sie entlastete und sprach von individueller Schuld und Verantwortung für den Nationalsozialismus frei.“[34]

Da aber nur wenige Deutsche wirklich Widerstand gegen den Nationalsozialismus leisteten, konnte der von oben verordnete Antifaschismusmantel individuell kaum passen. Die DDR musste deshalb einen anderen Weg der Vermittlung gehen, um im kollektiven Gedächtnis der neuen DDR-Bürger überhaupt einen Zugang zu finden. Dies geschah durch Rituale, Denkmäler, Literatur und bildende Künste.[35] Der antifaschistische Widerstandsgedanke musste demnach auch in den Stätten des NS-Terrors wieder gefunden werden können. Das hatte zur Folge, dass innerhalb dieser Gedenkorte der antifaschistische Widerstand im Sinne eines staatsbegründeten Geschichtsbildes vor den eigentlichen historischen Zusammenhang trat. Die sich daraus entwickelnde „doppelte Vergangenheit“ wurde vor allem in der Erinnerungskultur des seit 1990 vereinten Deutschland zu einem umstrittenen Gegenstand. „Hier (in den Gedenkstätten, Anm. d. Verf.) bündelten sich Streitfragen, die sich aus der widersprüchlichen Geschichte und Funktion der Gedenkstätten ergaben;“[36]

Den Kommunisten fiel es nicht schwer, ihre eigene Leidensgeschichte in den Lagern des NS-Terrors offen zu thematisieren. Gehörten sie doch zu der Gruppe der Gefangenen, die über die längsten Lagererfahrungen im Nationalsozialismus verfügten.[37] Das wiederum hatte aber auch zur Folge, dass, wie oben bereits erwähnt, eine Wirklichkeitsverzerrung im Hinblick auf den wesentlichen Inhalt des Nationalsozialismus einsetzte.

„Die meisten deutschen Kommunisten in den Lagern waren infolge der fehlenden Verbindung mit der Außenweltwirklichkeit auf dem Stand ihres politisch-taktischen Denkens der Zeit vor 1933 stehen geblieben. Sie hatten ihre vom positivistischen Bürgertum ererbten Anschauungen des vergangenen Jahrhunderts, ihre überkommenen Maximen, die sie für Glaubenssätze der früheren Moskauer Generallinien-Anweisungen hielten, und ihr so genanntes dialektisches Schema, das ihnen erlaubte, die eigenen jeweiligen Ansichten und wechselnden Meinungen für das unmittelbare Ergebnis der vermeintlichen Erfordernisse der Wirklichkeit auszugeben.“[38]

Die Lagerstruktur selber und das System der Lager im Gefüge der SS-Wirtschaft wurden auf diese Weise vereinfacht dargestellt. Unter den Bedingungen der DDR konnte somit eine ganz andere Perspektive gegenüber diesen Erinnerungsorten eingenommen werden, die sich darin äußerte, eine Primärstruktur nach innen gerichteter nationalsozialistischer Herrschaftsverhältnisse mit dem Ziel, die Juden zu vernichten, auszublenden.


[1] vgl. die Rede „Das Volk stand hinter ihnen“ des Vorsitzenden des Kuratoriums der „Stiftung Hilfswerk 20. Juli 1944“ Emil Henk am 19. Juli 1953, gehalten im Ehrenhof des Bendlerblocks, in: Gedenkstätte Deutscher Widerstand Dr. Johannes Tuchel & Ute Stiepani, M.A (Hrsg.), Der 20. Juli 1944 – Erinnerungen an einen historischen Tag – Reden und Gedenkfeiern, abrufbar unter http://www.20-juli-44.de/index1.html (auch als Dokument 1 im Anhang)

[2] Moshe Zimmermann: Die Erinnerung an Nationalsozialismus und Widerstand im Spannungsfeld deutscher Zweistaatlichkeit, in: Jürgen Danyel (Hrsg.), Die geteilte Vergangenheit – Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten. Berlin 1995, S.133

[3] zitiert aus der Rede „Das Volk stand hinter ihnen“ des Vorsitzenden des Kuratoriums der „Stiftung Hilfswerk 20. Juli 1944“ Emil Henk am 19. Juli 1953, gehalten im Ehrenhof des Bendlerblocks, in: Gedenkstätte Deutscher Widerstand Dr. Johannes Tuchel & Ute Stiepani, M.A (Hrsg.), Der 20. Juli 1944 – Erinnerungen an einen historischen Tag – Reden und Gedenkfeiern, abrufbar unter http://www.20-juli-44.de/index1.html (auch als Dokument 1 im Anhang)

[4] Peter Reichel: Politik mit der Erinnerung – Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, Wien 1995, S.296 f.

[5] sämtliche empirische Daten sind zit. nach Arthur Heinrich: 3:2 für Deutschland. Die Gründung der Bundesrepublik im Wankdorf-Stadion zu Bern. Göttingen 2004

[6] Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Rolf Tiedemann (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Band 10.2, Frankfurt a.M. 1986, vgl. S.558 f.

[7] In seinem Text Massenpsychologie und Ich-Analyse beschreibt Sigmund Freud unter dem Punkt V. Zwei künstliche Massen: Kirche und Heer den Verlust des Führers als Fanal für die Masse selbst: „Der Verlust des Führers in irgendeinem Sinne, das Irrewerden an ihm, bringt die Panik bei gleich bleibender Gefahr zum Ausbruch; mit der Bindung am den Führer schwinden – in der Regel – auch die gegenseitigen Bindungen der Massenindividuen. Die Masse zerstiebt wie ein Bologneser Fläschchen, dem man die Spitze abgebrochen hat.“ in: Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse – Die Zukunft einer Illusion, Frankfurt a.M. 1993, S.60 f.

[8] Adorno: Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Rolf Tiedemann (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Band 10.2, Frankfurt a.M. 1986, S.564

[9] Theodor W. Adorno: Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda, in: Psyche – Z Psychoanal 24 (1970): S.486 – 509

[10] Die Ergebnisse zu den Reichstagswahlen während der Weimarer Republik finden sich in den Jahrbüchern Statistik des Deutschen Reiches des Statistischen Reichsamtes, hier in: Statistisches Reichsamt (Hrsg.): Statistik des Deutschen Reiches, Band 434. Die Wahlen zum Reichstag am 31. Juli 1932 und am 6. November 1932 und am 5. März 1933 (Sechste bis achte Wahlperiode), Berlin 1935

[11] Adorno: Anm.8, ebd.

[12] ebd., vgl. S.555 ff.

[13] ebd., S.557

[14] Detlev Claussen: Grenzen der Aufklärung – Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus, Frankfurt a.M. 2005, S.37

[15] Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, in: Rolf Tiedemann (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Band 6, Frankfurt a.M. 1986, S.358

[16] Hannah Arendt: Besuch in Deutschland, in: dies: Zur Zeit. Politische Essays, Berlin 1986, S.44

[17] siehe dazu auch Joachim Perels: Die Zerstörung von Erinnerung als Herrschaftstechnik – Adornos Analysen zur Blockierung der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, in: Helmut König, Michael Kohlstruck u. Andreas Wöll (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, o.O. 1998, vgl. S.58 ff.

[18] Moshe Zimmermann: Die Erinnerung an Nationalsozialismus und Widerstand im Spannungsfeld deutscher Zweistaatlichkeit, in: Jürgen Danyel (Hrsg.), Die geteilte Vergangenheit – Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten. Berlin 1995, S.133

[19] Peter Reichel: Politik mit der Erinnerung – Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, Wien 1995, S.298

[20] ebd., vgl. S.298 f.

[21] ebd., Der Begriff der Geschichtspolitik wird in Abgrenzung zur Erinnerungskultur von den Politologen Claus Leggewie und Erik Meyer in ihrem Buch „Ein Ort, an dem man gerne geht“ behandelt. Damit wird das bis dahin vernachlässigte Feld der Wirkung politischer Entscheidungsprozesse auf Gedächtnisstrukturen und Erinnerungsleistungen eingehender untersucht.

[22] ebd.

[23] ebd., vgl. S.299

[24] ebd., S.300

[25] ebd., vgl. S.302

[26] zitiert nach Reichel: Anm.19, S.302 & 303

[27] ebd., S.303

[28] Zimmermann: Anm.18, vgl. S.135

[29] ebd.

[30] Reichel: Anm.19, vgl. S.304 f.

[31] Zimmermann: Anm.18, S.135

[32] Vincent von Wroblewsky beschreibt in seinem Buch zwischen Thora und Trabant die staatlich vorgegebene Perspektive auf die Juden. Auch seine Interviewpartner bestätigen den Eindruck einer Tabuisierung des Wortes Jude einerseits und die Gleichmacherei mit anderen Opfergruppen andererseits. Der Autor zitiert sich selbst als er auf einer internationalen Tagung das Wort zum Thema „40 Jahre Juden in der DDR“ ergriff: „Ich habe versucht zu erklären, warum nach dem Krieg die politische Führung im Osten Deutschlands zunächst durch ihren Kampf gegen den Nazismus legitimiert war. Diese Legitimation verlor sie aber zunehmend dadurch, dass keine Demokratisierung der Verhältnisse stattfand, sondern die Trennung zwischen Erziehern und Erzogenen sich verfestigte. Die Tatsache, dass in der obersten Spitze viele aus der älteren Generation ehemalige Antifaschisten waren, wurde auf den gesamten Staat und seine Geschichte ausgedehnt, und das führte dazu, dass in der DDR weder eine wirkliche Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit und erst recht nicht der Verbrechen gegen die Juden stattfand.“ in, ders: Anm.30, S.209

[33] Edgar Wolfrum: Die beiden Deutschland, in: Volkhard Knigge und Norbert Frei (Hrsg.), Verbrechen erinnern – Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S.142

[34] ebd., S.143

[35] ebd.

[36] Hasko Zimmer: Der Buchenwald-Konflikt – Zum Streit um Geschichte und Erinnerung im Kontext der deutschen Vereinigung, Münster 1999, S.36

[37] Eugen Kogon: Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1974, vgl. S.330

[38] ebd.



Die letzten 100 Artikel