Da meine Familiengeschichte (leider) von dieser Frage empfindlich beeinflusst worden ist und wegen dieser Frage viele ihrer Mitglieder verloren hatte, wurde sie für mich in jungen Jahren schon recht relevant.
Aufgewachsen in einem westfälisch-katholischen Kleinstädtchen, hatte mir meine Familie diese Geschichte bis zu meinem zwölften Lebensjahre erspart. Erst dann hatte ich zu lernen, dass mich weit weniger mit meinen Sandkastenkameraden verbunden hatte, als ich jemals geahnt hatte.
Fortan saß ich gewissermaßen zwischen den Stühlen.
Dieses Deutschland war und blieb bis heute meine Herkunft, auch wenn mir der Begriff „Heimat“ nicht aus der Feder und von den Lippen will. In der Schule nahm ich begeistert die Geschichte des Grundgesetzes auf, ich las und lernte es und fand darin die unendliche Verzweiflung, die maßlose Hoffnung derer auf, die es erdacht hatten. Ich hatte seine Absicht verstanden, ich fühlte, mit welcher Abscheu die Väter des Gesetzes auf die begangenen Verbrechen geschaut und welche Zuversicht sie in die Lernfähigkeit Deutschlands gesetzt hatten. Ich wurde, was ich bis auf den heutigen Tag geblieben bin: ein begeisterter Anhänger des Grundgesetzes und ein Vertreter, ja Verteidiger eines GRUNDGESETZLICHEN Deutschlands.
Es war aber nicht einfach.
Ich entsinne mich eines fröhlichen Ausfluges mit Kumpels, ich war gerade siebzehn, auf den Eiffelturm in Paris. Da auf dem Plateau entdeckte ich einen Mann mit langen Schläfenlocken, der, nachdem er uns gesehen hatte, vollkommen panisch seine beiden Söhne zusammensuchte und zum Ausgang drängte. Ich sprach ihn direkt an und fragte ihn, was sein Problem sei. Tränen sprangen in seine Augen, seine Unterlippe zitterte und mühsam stieß er hervor: „Verzeihen Sie. Ich weiß, dass es nicht richtig ist, aber ich kann die Anwesenheit von Deutschen nicht ertragen.“
Noch bevor ich ihm mitteilen konnte, dass ich selbst einer zwar deutschen, aber verfolgten Familie angehörte, war er verschwunden.
In England, ich lebte in einer gutbürgerlichen, englischen Kleinfamilie, fragte mich Hausfrau und Freundin Jeannie eines Mittags von der Seite, ob ich des abends etwas vorhätte. Als ich verneinte, sagte sie: „Dann sei mal um sieben hier. Wir bekommen Besuch.“
Etwas verwundert war ich schon, dachte mir aber nicht viel dabei.
Um sieben dann wies mir Jeannie den dicksten Sessel am Kamin, der sonst ihrem Tom vorbehalten war. Tom war Feuerwehrmann und da es zu der Zeit größere Waldbrände in der Gegend gab, verzichtete er sonst auf keinen Fall auf seinen abendlichen Sessel. Da ging die Türklingel. Gut acht Leute betraten das Haus, Unsicherheit, Verlegenheit krabbelte in mir hoch da ich verstand, dass es hierbei irgendwie um mich gehen sollte. Sie schoben einen Rollstuhl vor sich her ins Wohnzimmer, darin ein alter Mann, der eigentlich nur noch aus Torso, einem Kopf und einem Arm bestanden hatte. Er fixierte mich starr, ich sah Hass in seinen Augen und er schnarrte nur, völlig grußlos: „Wo war dein Vater während des Krieges?“ und ich gab ihm wahrheitsgemäß die Antwort. Er war als „letztes Aufgebot“ unter Androhung der Todesstrafe als schwindsüchtiger Siebzehnjähriger in eine Uniform gesteckt und in den Osten geworfen worden.
Er nickte kurz und verschwand mit all seinen Leute. Jeannie verstand meine Betroffenheit und murmelte nur: „Du musst ihn verstehen. Er hat als einziger seiner Familie Coventry überlebt.“ – ich stellte keine Fragen mehr dazu.
Es ist einerseits gut für mich, Deutscher zu sein.
Wir hatten einmal, kurz nach dem verbrecherischsten System der gesamten Menschheitsgeschichte vorübergehend das beste. Ich hatte einmal geglaubt, dass dieses Volk hier ganz Wesentliches wirklich verstanden hatte. Und da unser System nicht zwanzig Jahre nach seiner Gründung hinweggefegt worden war sondern sich tatsächlich in nachfolgende Generationen gerettet hatte, bestand, so glaubte ich, Hoffnung.
Wir hatten einmal eine machtvolle Botschaft; sie begann mit den Weigerungen, bei imperialistischen, globalen Kriegs- und Beutezügen mitzutun. Sie bestand aus einer kleinen wie rührend unfähigen Armee, die viel lieber diskutierte und zweifelte und feierte als zu killen.
Ich war stolz darauf, dass man all diese Dinge international etwas belächelte und uns Deutsche für vergeistigte und verweichlichte Spinner hielt; ich fand das richtig toll. Es ging plötzlich Friede und Zweifel statt Krieg und Hass von diesem Land aus.
Doch dann folgten die Jahre, in denen ich mich im Ausland dabei erwischt habe, dass ich mich auf Anfrage als „Schweizer“ tarnte. Denn auf einmal gab es ihn wieder, den wirklich hässlichen Deutschen. Er war wieder da.
Er war nie ganz ausgestorben, aber die wenigen, registrierten Ausnahmen hielt ich für kranke Dummköpfe, Einzelfälle, nicht erwähnenswert – schließlich gibts in jedem Park neben vielen Bäumen auch immer wieder ein paar Mülleimer.
Aber plötzlich starben in Deutschland wieder Menschen, nur weil sie anders aussahen, was mir einen tiefen Schock versetzte und mich fragen ließ, was diesem Deutschland passiert war.
Und wieder starben welche, weil sie eine andere Sprache hatten und wieder und wieder. Sie wurden vor U-Bahnen gestoßen, auf offener Straße verprügelt. Aber am schlimmsten war Hünxe; da hatte der verblödete, deutsche Mob, den es auf einmal wieder gab, wie gewohnt in alter Manier zusammengerottet ein Ausländerheim angegriffen und angezündet. Nie werde ich das Foto von dem Deutschen vergessen, der mit Bierflasche in der rechten, zum Hitlergruß hochgerissenen Hand und Pissfleck auf der Hose in die Kamera grinste.
Nein nein …. das waren jetzt keine kranken Einzelfälle mehr, die eine gute und grundstabile Demokratie vertragen kann und muss.
Denn auch Politiker, ja Ministerpräsidenten und Vorstände der Deutschen Bank haben den gedanklichen Pissfleck und den Hitlergruß im Kopf. Nicht, weil sie etwa daran glauben würden, sondern weil sie um Wählerstimmen ihre Überzeugungen verraten.
Vor vielen Jahren fragte mich ein muslimischer Bruder, Familienvater, eigentlich wirklich sehr gut integriert: „Sag mal, glaubst du, dass wir dies Land verlassen müssten?“ und ich antwortete ihm: „Noch lange nicht! Das Land und wir, wir haben jede Chance die wir haben wollen. Noch lange nicht.“
Vor zwei Wochen aber erinnerte ich ihn an dieses Gespräch und sagte: „Hmmmm …. vielleicht sollten wir schon mal in Koffer investieren…“
Wie lange es zur nächsten Kristallnacht noch dauert, vermag ich nicht einzuschätzen. Aber die Gullideckel stehen wieder weit offen und die dicksten und braunsten Ratten trauen sich nicht mehr nur noch nachts heraus. Sie sind hier mitten unter uns, die Peinlichkeiten unseres Landes, der Gestank unter dem Röckchen Deutschlands und gröhlen wieder recht unverhohlen ihre miesen, hasserfüllten Parolen. Sie zählen zum Bodensatz der Gesellschaft, der sich vor vielleicht zwanzig Jahren dessen noch schämte und ihm zu entkommen versuchte. Da gab es noch sowas wie Bildung, wo heute auf „-ung“ verzichtet wird und man sich öffentlich dazu bekennt, mehr Information als nur noch „BILD“ gar nicht mehr vertragen zu können und ertragen zu wollen.
Leute wie ich – und davon gibt es viele tausende! – verzweifeln an diesem Lande und fragen sich, weshalb sie noch immer zwischen den Stühlen sitzen und den morschen, braunen und hässlicheren nicht langsam aufgeben.
Was gibt es hier noch groß zu verteidigen? In einem Land, dass angesichts seiner gröhlenden, rechtsradikalen und besoffenen Pestbeulen nicht getroffen aufschreit und sich verstört offen fragt, wie es dazu nur kommen konnte?
Ein Land, in welchem eine angeblich „große Volkspartei“ fast ungerührt dabei zuschaut, wie eines ihrer Mitglieder offen von der „Produktion von Kopftuchmädchen“ spricht und sich immer mehr, immer mehr kranke Auswürfe in der Öffentlichkeit erlaubt?
Wo ist es nur hin, dieses vor Schrecken starre, nachdenkliche, friedenssehnsüchtige Deutschland? Dies Land, welches so voll von dieser Botschaft war, dass es nun wieder jedem anderen damit auf den Wecker gegangen war? In welchem es keinem Soldaten eingefallen wäre, ohne den ureigensten Verteidigungsfall und unter keinen Umständen außerhalb seiner eigenen Landesgrenzen zur Waffe zu greifen?
Wozu soll es heute gut sein, „Deutscher“ zu sein?
Etwa, weil wir Exportweltmeister sind?
Ist das alles?
Haben wir sonst nichts mehr vorzuweisen? Ist alles hin? Ja?
© 2010 Echsenwut.